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Sie war eine Gefallene.

Mit der Seite eines Fingers strich sie über Hanias zarte Wange. Die beiden Frauen blickten sich lange innig in die Augen. »Versprochen«, sagte Nicci leise. »Schnell und wirkungsvoll. Es wird das Ende Eurer Schmerzen sein.«

Mit tränenüberströmten Augen willigte Hania kaum merklich nickend ein.

13

Das Anwesen war, vermutete sie, ein imposanter Wohnsitz. Nicci war derartige Pracht nicht unbekannt, zumal sie zweifellos schon sehr viel größere Erhabenheit gesehen hatte. Nahezu ein Dreivierteljahrhundert hatte sie inmitten solcher Herrlichkeit gelebt, zwischen den imposanten Säulen und Bögen makelloser Gemächer, zwischen verschlungenen Reben aus geschnitztem Stein und Holztäfelungen, so glatt, als wären sie aus Butter, inmitten von Federbetten und seidenen Überwürfen, erlesenen Teppichen und kostbaren Wandbehängen, von Verzierungen aus Silber und Gold, im Glanz des gleißenden Gefunkels der aus bunt gefärbtem Glas gemachten und zu heroischen Szenen zusammengestellten Fenster. Die Schwestern dort hatten Nicci ihr strahlendes Lächeln gezeigt und ihr geistreiche Unterhaltung geboten.

Verschwendungssucht bedeutete ihr nicht mehr als der Schotter der Straße, als die kalten, feuchten, auf unebenem Boden ausgebreiteten Laken, die im Schlamm zwischen schmierigen Rinnsteinen, im Kot enger Gassen angelegten Nachtlager mit nichts als dem nackten Himmel über dem Kopf. Die zusammengekauerten Menschen dort hatten nie ein Lächeln für sie übrig, sondern starrten aus eingesunkenen Augen zu ihr hoch wie Tauben, die gurrend um ein Almosen bitten.

Ein Teil ihres Lebens hatte sie in Prunk und Herrlichkeit verbracht, einen anderen inmitten von Schmutz und Unrat. Manche Menschen waren dazu verdammt, ihr Leben an diesem, andere, es an jenem Ort zu verbringen; sie hatte beides mitgemacht.

Nicci langte nach dem Silbergriff an einer der beiden reich verzierten Doppeltüren, die von zwei stämmigen, vermutlich bei den Schweinen im Stall aufgewachsenen Soldaten flankiert wurden, und merkte, dass ihre Hand blutverschmiert war. Sie drehte sich um und wischte sie wie selbstverständlich an der verdreckten, blutbefleckten Fellweste ab, die einer der beiden Männer trug. Die Bizepse seiner verschränkten Arme waren fast so dick wie ihre Taille. Als sie ihre Hand an ihm säuberte, machte er trotz seiner finsteren Miene keinerlei Anstalten, sie daran zu hindern. Schließlich machte sie ihn nicht schmutziger, als er ohnehin schon war.

Hania hatte ihren Teil der Abmachung eingehalten. Nicci griff nur selten auf den Gebrauch von Waffen zurück; gewöhnlich benutzte sie ihre Gabe. Aber in diesem Fall hätte das natürlich ein Fehler sein können. Als sie ihr das Messer an die Kehle hielt, hatte Hania sich mit schwacher Stimme dafür bedankt, was Nicci zu tun im Begriff war. Zum ersten Mal hatte sich ein Mensch bei Nicci bedankt, bevor sie ihn tötete. Überhaupt geschah es nur selten, dass jemand Nicci für ihre Hilfe dankte. Sie war dazu befähigt, die anderen nicht; es war ihre Pflicht, ihnen in ihrem Elend beizustehen.

Als sie ihre Hand so gut es ging an dem stummen Wachtposten abgewischt hatte, bedachte sie sein düster funkelndes Gesicht mit einem knappen, unverbindlichen Lächeln und trat durch die Tür in eine elegante Eingangshalle. Eine Reihe hoher, die eine Wand des Saales säumender Fenster war mit weizenfarbenen Wandbehängen verziert. In der Nähe ihrer mit Troddeln besetzten Ränder funkelten die Wandbehänge im Schein der Lampen, als wären sie mit Gold durchwirkt. Ein spätsommerlicher Regen prasselte gegen die Fensterscheiben, durch die man draußen nichts als Dunkelheit erkennen konnte, während sich das Geschehen drinnen in ihnen spiegelte. Die hellen Wollteppiche, verziert mit Blumen, denen man mit unterschiedlich langem Garn und großer Sorgfalt eine räumliche Wirkung verliehen hatte, waren übersät mit schlammigen Fußspuren.

Kundschafter gingen ein und aus, ebenso wie Boten und Soldaten, die einigen der Offiziere ihre Berichte aushändigten. Andere Offiziere blafften Befehle. Soldaten mit eingerollten Karten in den Händen eilten ein paar höherrangigen Offizieren hinterher, während diese in dem stickigen Raum ziellos auf und ab liefen.

Eine dieser Karten lag ausgebreitet über einem schmalen Tisch, den silbernen Kandelaber des Tisches hatte man auf den Fußboden hinter dem Tisch beiseite gestellt. Als Nicci an dem Tisch vorüberkam, warf sie einen Blick darauf und sah, dass viele jener Einzelheiten fehlten, die auf der von dem D’Haranischen Boten gezeichneten Karte so sorgfältig vermerkt waren. Die über den Tisch gebreitete Karte wies in dem nach Nordwesten hin gelegenen Gebiet nur ein paar dunkle Flecken von verschüttetem Bier auf; die Karte aber, die sich in Niccis Gedächtnis eingebrannt hatte, zeigte an dieser Stelle Gebirgszüge, Flüsse, hoch gelegene Pässe und Gebirgsbäche – und einen Punkt, der Richards Aufenthaltsort markierte, den seiner Gemahlin, der Mutter Konfessor sowie der Mord-Sith.

Offiziere unterhielten sich – einige im Stehen, einige halb auf den Marmortischen mit Eisenfüßen sitzend, wieder andere sich in den gepolsterten Ledersesseln räkelnd – und bedienten sich mit Delikatessen von den silbernen Tabletts, die ihnen schwitzende Diener mit zitternden Händen reichten. Andere schütteten Bier aus Zinnkrügen in sich hinein, wieder andere tranken Wein aus zierlichen Gläsern, und alle taten so, als seien sie mit diesem Prunk bestens vertraut, obgleich sie allesamt so fehl am Platz wirkten wie widerliches Ungeziefer bei einer eleganten Teegesellschaft.

Eine ältere Frau, Schwester Lidmila, die, offenbar um unbemerkt zu bleiben, in den Schatten neben den Wandbehängen kauerte, richtete sich ruckartig auf, als sie Nicci durch den Saal schreiten sah, trat aus den Schatten hervor und hielt kurz inne, um ihre schäbigen Röcke glatt zu streichen, eine Betätigung, die keinesfalls zu einer erkennbaren Verbesserung führte. Schwester Lidmila hatte Nicci einst anvertraut, in jungen Jahren Gelerntes lasse einen nie im Stich und bleibe einem oftmals besser in Erinnerung als die Mahlzeit vom Abend zuvor. Gerüchteweise wurde behauptet, die alte Schwester, erfahren in geheimnisvollen Zaubern, wie sie nur den mächtigsten Hexenmeisterinnen bekannt waren, könne sich an allerlei Interessantes aus ihrer Jugendzeit erinnern.

Schwester Lidmilas ledrige Haut spannte so fest über ihren Schädelknochen, dass sie Nicci vor allem an eine exhumierte Leiche erinnerte. So sehr die betagte Schwester auch einer wandelnden Mumie glich – sie näherte sich quer durch den Saal mit lebhaften, entschlossenen Bewegungen.

Als sie nur noch wenige Schritte entfernt war, hob Schwester Lidmila winkend einen Arm, als sei sie nicht ganz sicher, ob Nicci sie bemerken würde. »Schwester Nicci, Schwester Nicci, da seid Ihr ja.« Sie ergriff Niccis Handgelenk. »Kommt mit, meine Liebe. Kommt. Seine Exzellenz erwartet Euch. Hier entlang, so kommt doch.«

Nicci drückte die ziehende Hand der Schwester. »Geht nur voran, Schwester Lidmila. Ich werde Euch dicht auf den Fersen folgen.«

Die ältere Frau sah lächelnd über ihre Schulter. Das Lächeln war weder freundlich noch erfreut, eher ein Zeichen der Erleichterung. Jagang bestrafte jeden, der sein Missfallen erregte, unabhängig davon, ob er sich etwas hatte zu Schulden kommen lassen.

»Was hat Euch so lange aufgehalten, Schwester Nicci? Seine Exzellenz ist ziemlich aufgebracht wegen Euch. Wo habt Ihr nur gesteckt?«

»Ich hatte … noch Geschäfte zu erledigen.«

Für jeden von Niccis Schritten musste die Frau deren zwei oder drei machen. »Geschäfte, wenn ich das höre! Hätte ich etwas zu sagen, ich würde Euch dafür, dass Ihr Euren Vergnügungen nachgeht, wenn man Euch braucht, unten in der Küche Töpfe schrubben lassen.«

Schwester Lidmila war altersschwach und vergesslich, und gelegentlich entfiel ihr, dass sie nicht mehr im Palast der Propheten weilte. Jagang benutzte sie, um Leute abzuholen oder um auf sie zu warten und ihnen den Weg – gewöhnlich zu seinen Zelten – zu zeigen. Sollte sie den Weg vergessen, konnte er, falls nötig, ihren Kurs noch immer korrigieren. Es amüsierte ihn, eine ehrwürdige Schwester des Lichts – eine Hexenmeisterin, die in dem Ruf stand, Kenntnis von den geheimsten Zauberformeln zu haben – für etwas so Erniedrigendes wie Botengänge einzuspannen. Weit weg vom Palast und seinem Bann, das Altern zu verhindern, bewegte sich Schwester Lidmila Hals über Kopf immer schneller in Richtung Grab. Das galt für alle ihre Gesinnungsgenossinnen.