Die gebeugte Schwester schlurfte, mit ihren freien Armen rudernd, vor Nicci her, zerrte sie an ihrer Hand durch prachtvolle Säle, über Treppenfluchten und durch Korridore. Schließlich blieb sie vor einer mit vergoldeten Zierleisten eingefassten Tür stehen und legte, nach Atem ringend, ihre Finger an die Unterlippe. Ernstgesichtige, im Korridor herumlungernde Soldaten überschütteten sie mit Blicken, so düster wie ihr Kleid. Sie identifizierte die Männer als kaiserliche Gardetruppen.
»Hier ist es.« Schwester Lidmila sah hoch zu Nicci. »Seine Exzellenz weilt in seinen Gemächern. So beeilt Euch doch. Geht schon, geht.« Sie fuchtelte mit den Händen, als wollte sie Vieh zusammentreiben. »Nun geht schon hinein.«
Vor dem Eintreten nahm Nicci ihre Hand noch einmal vom Griff und wandte sich zu der alten Frau um. »Schwester Lidmila, Ihr sagtet einmal, das Wissen, das Ihr zu vererben habt, sei bei mir am besten aufgehoben.«
Ein listiges Schmunzeln ließ Schwester Lidmilas Gesicht aufleuchten. »Sieh da, fangt Ihr endlich an, Euch für einige der okkulteren Zaubereien zu interessieren, Schwester Nicci?«
Nicci hatte sich zuvor noch nie für irgendwelche Dinge interessiert, die ihr Schwester Lidmila gelegentlich hatte aufnötigen wollen. Magie war eine egoistische Beschäftigung. Nicci lernte, was sie lernen musste, unternahm aber nie besondere Anstalten, darüber hinauszugehen, zu den eher ungewöhnlichen Bannen.
»Ja. Um die Wahrheit zu sagen, ich glaube, ich bin endlich so weit.«
»Ich habe der Prälatin stets gesagt, Ihr seid die Einzige im Palast, die für die Zaubereien, die ich beherrsche, die erforderliche Kraft besitzt.« Die Frau beugte sich näher. »Und diese Zaubereien sind gefährlich.«
»Dann solltet Ihr sie weitergeben, solange Ihr noch dazu im Stande seid.«
Schwester Lidmila nickte zufrieden. »Ich denke, Ihr seid alt genug, ich könnte sie Euch zeigen. Wann?«
»Ich werde Euch aufsuchen … morgen.« Nicci warf einen Blick auf die Tür. »Ich glaube, heute Abend kann ich keinen Unterricht mehr nehmen.«
»Dann also morgen.«
»Falls ich Euch … morgen tatsächlich aufsuchen sollte, werde ich ganz versessen darauf sein, etwas zu lernen. Vor allem interessiert mich der Mutterbann.«
Nach allem, was Nicci über ihn wusste, war dieser Bann mit dem merkwürdigen Namen genau das, was sie brauchte. Er besaß zudem den Vorteil, dass er, einmal ausgesprochen, nicht mehr zurückgenommen werden konnte.
Schwester Lidmila richtete sich auf und legte abermals die Finger an die Unterlippe. Ein Anflug von Besorgnis huschte über ihr Gesicht.
»Du liebe Güte. Diesen also, ja? Nun, ich könnte ihn Euch beibringen. Ihr habt das nötige Talent – was nur für wenige zutrifft. Keiner anderen als Euch traue ich zu, etwas Derartiges zum Leben zu erwecken; dazu ist eine enorme Kraft der Gabe erforderlich, aber die besitzt Ihr. Sofern Ihr Euch über den damit verbundenen Preis im Klaren und bereit seid, ihn zu zahlen, könnte ich Euch darin unterrichten.«
Nicci nickte. »Ich werde also kommen, sobald ich kann.«
Die alte Schwester setzte gemächlich ihren Weg durch den Korridor fort, in Gedanken bereits bei ihrem Unterricht.
Nachdem sie gewartet hatte, bis die betagte Schwester hinter der Ecke verschwunden war, betrat Nicci einen stillen, von unzähligen Kerzen und Lampen erhellten Raum. Die hohe Decke war mit einem gemalten Eichenlaubmuster abgesetzt. Überall standen luxuriöse Sofas und in gedämpften Brauntönen gepolsterte Sessel auf tiefen, in kräftigen Gelb-, Orange- und Rottönen gehaltenen Teppichen, die ihnen das Aussehen eines herbstlichen Waldbodens verliehen. Die schweren Vorhänge vor der breiten Fensterfront waren zugezogen. Zwei auf einem Sofa sitzende Schwestern sprangen auf.
»Schwester Nicci!«, schrie eine von ihnen geradezu vor Erleichterung.
Die andere lief zur Doppeltür auf der anderen Seite des Zimmers und öffnete, offenkundig auf Anweisung, eine von ihnen, ohne vorher anzuklopfen. Sie steckte den Kopf in das dahinter liegende Zimmer und sagte etwas mit leiser Stimme, das Nicci nicht verstand.
Die Schwester schreckte zurück, als Jagang aus dem Geheimzimmer heraus brüllte: »Verschwindet! Alle miteinander! Alle anderen raus!«
Zwei weitere junge Schwestern, ohne Zweifel Leibdienerinnen des Kaisers, stürzten aus dem Zimmer. Nicci musste beiseite treten, als alle vier mit der Gabe gesegneten Frauen auf die aus dem Gemach herausführende Tür zuhielten. Ein in einer Ecke sitzender junger Mann, den Nicci nicht bemerkt hatte, schloss sich ihnen an. Keiner würdigte Nicci auch nur eines Blickes, während sie sich beeilten, ihren Befehlen nachzukommen. Das war die erste Lektion, die man als Sklave in Jagangs Diensten lernte: Wenn er etwas von einem verlangte, dann wollte er, dass man es sofort erledigte. Kaum etwas erzürnte ihn mehr als Trödelei.
An der Tür des Geheimzimmers kam Nicci eine den anderen dicht auf dem Fuße folgende Frau entgegen. Sie war jung und wunderschön mit ihrem dunklen Haar und ebensolchen Augen, wahrscheinlich eine Gefangene, die man irgendwo auf dem langen Marsch aufgegriffen hatte und die zweifellos Jagangs Vergnügen diente. In ihren Augen spiegelte sich eine Welt, die den Verstand verloren hatte.
Das war der unvermeidliche Preis, wenn die Welt wieder in einen Zustand der Ordnung versetzt werden sollte. Große Anführer waren bereits ihrem Wesen nach mit charakterlichen Fehlern behaftet, in denen sie selbst nur unbedeutende Unzulänglichkeiten sahen. Die umfassenden Wohltaten, die Jagang den armen, Not leidenden Massen zukommen ließ, wogen seine kruden Akte der persönlichen Befriedigung und die vergleichsweise bescheidenen Verwüstungen, die er anrichtete, bei weitem auf. Oft wurde Nicci Opfer seiner Übergriffe. Es war ein Preis, den es sich, in Anbetracht der Hilfe, die den Hilflosen schließlich zuteil werden würde, zu zahlen lohnte; nur das durfte in ihren Überlegungen eine Rolle spielen.
Die Außentür schloss sich, und schließlich waren Nicci und der Kaiser allein in dem Gemach. Sie stand aufrecht, den Kopf erhoben, die Arme an den Seiten, und genoss die Stille dieses Ortes. Pracht bedeutete ihr wenig, Stille dagegen war ein Luxus, den sie schätzen gelernt hatte, selbst wenn das eigensüchtig war. In den Zelten herrschte stets der Lärm der sich dicht um sie drängenden Truppen, hier dagegen war es still. Sich flüchtig im geräumigen und reich verzierten Vorzimmer umsehend, stellte sie Betrachtungen darüber an, ob Jagang Geschmack an Orten wie diesem gefunden haben könnte. Vielleicht suchte er auch einfach nur die Stille.
Sie wandte sich wieder zum Geheimzimmer um. Er stand unmittelbar hinter der Tür und beobachtete sie, eine muskelbepackte, wuterfüllte Masse, jeden Augenblick bereit, zu explodieren.
Entschlossen ging sie direkt auf ihn zu. »Ihr wolltet mich sehen, Euer Exzellenz?«
Nicci spürte einen betäubenden Schmerz, als er ihr seinen fleischigen Handrücken ins Gesicht schlug. Der Schlag wirbelte sie herum. Sie fiel auf die Knie, er riss sie an den Haaren wieder auf die Füße. Beim zweiten Mal prallte sie erst gegen die Wand, bevor sie abermals zu Boden ging. Ein betäubender Schmerz zog sich pochend durch ihr ganzes Gesicht. Als sie die Orientierung wiedergefunden hatte, brachte sie die Beine unter ihren Körper und stand abermals vor ihm. Beim dritten Mal riss sie einen frei stehenden Kandelaber mit. Kerzen fielen durcheinander und rollten über den Fußboden. Ein langer Streifen durchsichtigen Vorhangstoffs, an den sie sich Halt suchend geklammert hatte, riss ab und legte sich sanft wehend über sie, als sie mitsamt einem umgestürzten Tisch krachend auf dem Boden landete. Glas splitterte, man hörte das Scheppern von Metall, als kleinere Gegenstände davonsprangen.