»Hier in Anderith war der Wendepunkt unseres Kampfes. Das Volk hat endlich den Wert dessen, was wir zu bieten haben, erkannt und Richard eigenhändig abgewählt. Er kann nicht länger behaupten, diese Menschen zu vertreten. Trotzdem seid Ihr einmarschiert und habt sie niedergemetzelt…«
»Die Anführer hier haben gewisse Versprechungen mir gegenüber nicht gehalten – wer weiß, welchen Anteil die allgemeine Bevölkerung daran hatte –, daher musste das Volk einen Preis bezahlen, gleichzeitig aber hat es sich, für seinen Mut, Lord Rahl und die überkommenen, eigensüchtigen und uninspirierten Sitten, die er ihnen anzubieten hatte, zurückzuweisen, in seiner Gesamtheit einen Platz innerhalb der Imperialen Ordnung verdient. Das Blatt hat sich gewendet. Die Menschen setzen ihr Vertrauen nicht mehr auf Lord Rahl, und er kann nicht mehr auf sie vertrauen. Richard Rahl ist ein gefallener Führer.«
Innerlich musste Nicci lächeln, es war ein trauriges Lächeln. Sie war eine gefallene Frau, und Richard ein gefallener Mann. Ihr Schicksal war besiegelt.
»Das mag vielleicht hier, an diesem einen begrenzten Ort zutreffen«, erwiderte sie, »aber er ist alles andere als besiegt. Er ist immer noch gefährlich, schließlich habt Ihr es Richard Rahl zu verdanken, dass Ihr Eure angestrebten Ziele hier in Anderith nicht verwirklichen konntet. Er hat nicht nur Euren eindeutigen Sieg verhindert, indem er riesige Vorratslager zerstörte und die Systeme von Produktion und Verteilung in völligem Chaos hinterließ, er ist Euch auch entwischt, als Ihr ihn eigentlich hättet gefangen nehmen müssen.«
»Ich werde ihn noch bekommen!«
»Wirklich? Ich weiß nicht recht.« Sie beobachtete seine Faust und wartete, bis die Spannung aus ihr wich, bevor sie weitersprach. »Wann werdet Ihr Eure Streitkräfte nach Norden marschieren lassen, in die Midlands?«
Jagang strich sich mit der Hand über seine behaarte Brust. »Schon bald. Ich möchte ihnen vorher Zeit geben, unachtsam zu werden. Sobald sie selbstgefällig sind, werde ich nach Norden vorstoßen. Ein großer Heerführer muss im Stande sein, das Wesen einer Schlacht zu deuten und seine Taktik darauf einzustellen. Wir werden als Befreier nach Norden in die Midlands einmarschieren und den Menschen die Herrlichkeit des Schöpfers bringen. Wir müssen die Herzen und den Verstand der noch Unbekehrten gewinnen.«
»Habt Ihr diesen Wechsel beschlossen? Ganz allein? Der Wille des Schöpfers spielt in Euren Überlegungen keine Rolle?«
Er funkelte sie ob ihrer Frechheit an, so als wollte er sagen, sie könne wohl kaum so dumm sein, eine solche Frage zu stellen.
»Ich bin Kaiser, ich habe es nicht nötig, unsere geistigen Führer um Rat zu fragen, andererseits ist ihr Rat stets willkommen, deshalb habe ich mit ihnen bereits gesprochen; sie haben sich über mein Vorhaben zustimmend geäußert. Bruder Narev hält es für klug und hat seinen Segen erteilt. Ihr haltet Euch besser an Eure Aufgabe, jeden Gedanken an Widerstand im Keim zu ersticken. Niemand wird eine Schwester vermissen, solltet Ihr meine Befehle nicht befolgen. Ich habe genug andere.«
So konkret seine Drohungen waren, sie ließen sie ungerührt. Sein argwöhnischer Blick verriet, dass auch er ihre Vision zu begreifen begann.
»Euer Vorgehen ist durchaus angemessen«, sagte sie, »nur muss es in kleine Häppchen zerlegt werden, die die Menschen schlucken können. Sie verfügen nicht über die Weisheit des Ordens, die sie erkennen lässt, was für sie am besten ist – dazu ist die breite Masse selten fähig. Selbst ein Dickschädel wie Ihr wird einsehen müssen, dass ich Eure Pläne vorausgeahnt habe, indem ich denen, die zu töten Ihr Euch nicht leisten könnt, zu der Erkenntnis verhalf, Ihr hättet sie wegen Eures Sinnes für Gerechtigkeit verschont. Mit der Kunde von solchen Taten werdet Ihr die Herzen gewinnen.«
Er warf ihr einen Seitenblick zu. »Ich bin die reinigende Flamme des Ordens. Das Feuer ist ein notwendiger Brand, aber nicht das eigentliche Ziel – es ist lediglich ein Mittel zum Zweck. Aus der Asche, die ich, Jagang, erzeuge, kann eine Ordnung entstehen und gedeihen. Dieses Ziel, das neue, ruhmvolle Zeitalter der Menschheit, rechtfertigt dieses Mittel. Es ist meine Verantwortung – und nicht Eure –, darüber zu entscheiden, was gerecht ist: wann und wie ich Recht spreche und wem es zugute kommt.«
Seine Eitelkeit ließ sie zunehmend ungehalten werden, und ihre Stimme troff vor Verachtung. »Ich habe dem lediglich einen Namen gegeben – Jagang der Gerechte – und, als die Gelegenheit günstig war, damit begonnen, Euren neuen Titel zu verbreiten. Dafür habe ich Kadar Kardeef geopfert, und zwar aus genau denselben Gründen, die Ihr soeben aufgelistet habt. Es musste jetzt geschehen, damit es genügend Zeit hat, sich zu verbreiten und aufzublühen, sonst hätte sich die Neue Welt gegenüber der Imperialen Ordnung nur unwiderruflich verhärtet. Ich habe Zeit und Ort gewählt und durch den Einsatz von Kadar Kardeefs Leben, das Leben eines Kriegshelden, bewiesen, dass Ihr vor allem den Zielen des Ordens treu seid.
Zu Eurem Vorteil. Jeder Rohling hätte diesen Brand entzünden können; dieser neue Titel ist ein Beweis für Eure sittlich-visionäre Kraft – ein weiteres Zeichen dafür, dass Ihr verdienstvoller seid als andere Männer. Ich habe den entscheidenden Samen ausgestreut, der Euch zum Helden des gemeinen Volkes und, noch wichtiger, der Priester machen wird. Wollt Ihr etwa so tun, als hieltet Ihr den Titel für unangemessen? Oder dass er Euch keine guten Dienste leisten wird?« Nicci blickte Jagang fragend an.
»Was ich allein getan habe, wird Euch helfen, etwas zu erreichen, wozu Eure mächtige Armee nicht fähig ist: kampflos Ergebenheit und Gehorsam zu gewinnen, und das umsonst. Mit Kadars Leben habe ich, Nicci, mehr aus Euch gemacht, als Ihr jemals allein hättet schaffen können. Ich, Nicci, habe Euch den Ruf des Ehrenmannes verschafft. Ich, Nicci, habe Euch zu einem Anführer gemacht, dem die Menschen vertrauen, weil sie Euch für gerecht halten.«
Seine Augen von ihrem leidenschaftlichen Funkeln abwendend, verfiel er eine Weile ins Grübeln. Schließlich öffnete er leicht den Arm, und seine Finger wanderten zärtlich an ihrem Schenkel hinab. Die Berührung kam einem Eingeständnis gleich – einem Eingeständnis, dass sie Recht hatte, selbst wenn er es nicht offen aussprechen mochte.
Nach wenigen Augenblicken gähnte er, und ihm fielen die Augen zu. Sein Atem wurde gleichmäßiger, und er glitt in ein kurzes Nickerchen hinüber, wie er es häufiger in ihrer Gegenwart tat. Er erwartete, dass sie an Ort und Stelle verharrte, so dass sie ihm bei seinem Erwachen zur Verfügung stand. Vermutlich hätte sie sich aus dem Staub machen können, aber noch war es nicht so weit. Noch nicht.
Eine Stunde später wachte er schließlich wieder auf. Nicci starrte noch immer auf den Baldachin, in Gedanken bei Richard. Irgendein Mosaikstein schien in ihrem Plan zu fehlen, irgendein zusätzliches Detail, das nach ihrem Empfinden noch seinen Platz finden musste.
Jagang hatte ihr im Schlaf den Rücken zugekehrt, jetzt drehte er sich wieder um. Seine dunklen Augen erfassten sie mit einem Blick von frisch entfachter Lust. Er zog sie an sich. Sein Körper war warm wie ein Stein in der Sonne und nur unwesentlich geschmeidiger.
»Seid mir zu Willen«, kommandierte er mit heiser knurrender Stimme, die jede andere Frau so eingeschüchtert hätte, dass sie seinem Befehl unverzüglich nachgekommen wäre.
»Sonst was? Sonst werdet Ihr mich töten? Hätte ich davor Angst, wäre ich nicht hier. Ich bin hier, weil ich dazu gezwungen werde, nicht aus freien Stücken. Weder werde ich mich freiwillig fügen, noch lasse ich zu, dass Ihr Euch so lange selbst betrügt, bis Ihr glaubt, ich wollte Euch.«