Sie sah in sein Gesicht und suchte nach der Antwort. Er lächelte bloß, als er ihren fragenden Blick bemerkte.
»Die Bauarbeiten haben bereits begonnen«, sagte er, wie um von diesen Fragen abzulenken. »Architekten und bedeutende Bauherren aus der gesamten Alten Welt sind zusammengekommen, um daran zu arbeiten. Jeder möchte an einem Projekt von diesen Ausmaßen teilhaben.«
»Und Bruder Narev?«, hakte sie nach. »Was hält er davon, einem Mann ein derart leichtsinniges Denkmal zu errichten, wo es doch Wichtigeres für die zahlreichen Bedürftigen zu erledigen gäbe?«
»Bruder Narev und seine Gefolgsleute stehen diesem Vorhaben durchaus wohlgesonnen gegenüber.« Jagang ließ ein verschlagenes Lächeln sehen. »Sie werden natürlich ebenfalls dort leben.«
Jetzt fiel es ihr wie Schuppen von den Augen.
»Er wird den neuen Palast mit einem Bann verzaubern«, sagte sie leise, erstaunt, wie zu sich selbst.
Jagang lächelte nur, während er sie beobachtete, ihre Reaktion bereitete ihm sichtlich Freude.
Bruder Narev hatte fast ebenso lange im Palast der Propheten gelebt wie sie, fast einhundertsiebzig Jahre, und doch schien er – genau wie sie – während dieser langen Zeit nur zehn oder fünfzehn Jahre gealtert zu sein. Niemand außer Nicci hatte je davon erfahren, dass er etwas anderes als ein Stallbursche war – niemand wusste, dass er die Gabe besaß.
Während dieser langen Zeit musste er, gemeinsam mit ihr und all den anderen, die ihn kaum beachteten, den Bann studiert haben, der den Palast umgab. Ihres Wissens waren die meisten von Bruder Narevs Anhängern junge Zauberer aus dem Palast der Propheten gewesen; sie hatten Zutritt zu den Gewölbekellern. Gut möglich, dass auch sie Informationen beigesteuert hatten, die ihm dabei halfen. Aber war er wirklich zu so etwas im Stande?
»Erzählt mir von dem Palast«, sagte sie, seine Stimme dem wortlos forschenden Blick aus seinen albtraumhaften Augen vorziehend.
Zuerst küsste er sie, so wie ein Mann eine Frau küsst, nicht wie ein Rohling sein Opfer. Sie ließ es mit nicht mehr Gewogenheit über sich ergehen als alles andere. Er schien es diesmal gar nicht zu bemerken, nach dem Lächeln auf seinem Gesicht hatte er offenbar Gefallen daran gefunden.
»Wenn man alle Korridore durchwandern will, entspricht das einem Fußmarsch von beinahe fünfzehn Meilen.« Er machte eine ausladende Handbewegung und begann, den Palast in der Luft vor ihnen zu skizzieren. Während er weitersprach, blieb sein Blick auf die imaginären Umrisse geheftet, die dort im leeren Raum standen.
»Die Welt hat noch nichts Vergleichbares gesehen. Während ich unser Werk fortführe, der Neuen Welt die Hoffnung der Imperialen Ordnung zu geben, den Sündigen und Habgierigen das wahre Wort des Schöpfers zu verkünden und die selbstsüchtigen Ideale der alten Religion der Magie auszumerzen, werden zu Hause in meinem Heimatland die Arbeiten zur Errichtung des Palastes fortgesetzt. Steinbrüche werden auf Jahre hinaus damit beschäftigt sein, all das Felsgestein zu gewinnen, das man bei dem Bau verarbeiten wird. Die Vielfalt der Gesteinsarten wird keinen Zweifel an der Pracht des Bauwerkes lassen. Der Marmor wird vom Feinsten, das Holz ausschließlich vom Allerbesten sein. Nur außergewöhnliche Materialien werden im Palast Verwendung finden. Aus alledem werden die besten Handwerker ein prachtvolles Bauwerk schaffen.«
»Gewiss, doch obwohl vielleicht noch andere dort leben werden«, spottete sie mit kühler Verachtung, »wird er nichts weiter sein als das pomphafte Denkmal eines einzelnen Mannes: des großen und mächtigen Kaisers Jagang.«
»Nein, er wird dem Ruhm des Schöpfers geweiht sein.«
»Ach ja? Dann wird der Schöpfer dort ebenfalls seinen Wohnsitz nehmen?«
Jagang runzelte missbilligend die Stirn wegen ihrer gotteslästerlichen Bemerkung. »Bruder Narev möchte, dass der Palast belehrend auf das Volk einwirkt. Während ich der Imperialen Ordnung den Weg bereite, stellt er dem Vorhaben seinen geistigen Beistand zur Verfügung und wird die Bauarbeiten persönlich überwachen.«
Das war es, was sie wissen wollte.
Er starrte auf die unsichtbaren Linien, die noch immer in der Luft vor ihnen standen. Seine Stimme bekam einen ehrfürchtigen Beiklang.
»In diesem Punkt teilt Bruder Narev meine Vision. Er war immer wie ein Vater zu mir, er hat das Feuer in meinem Leib entfacht. Seine spirituelle Unterweisung war mir ein Leben lang Inspiration. Er erlaubt mir, im Vordergrund zu stehen und den Ruhm für unsere Siege zu beanspruchen, doch ohne seine Unterweisung in Moral wäre ich ein Nichts. Was ich gewinne, gewinne ich als ausführende Hand des Ordens, doch eine Hand ist nur ein Teil des Ganzen, so wie wir alle nichts als unbedeutende Einzelteile der Gesellschaft als Ganzes sind. Ihr habt Recht: zahlreiche andere könnten meinen Platz im Orden einnehmen, dennoch ist es meine Pflicht, die Rolle des Führenden zu übernehmen. Ich würde das von Bruder Narev in mich gesetzte Vertrauen niemals enttäuschen – das käme einem Verrat an unserem Schöpfer gleich. Er weist uns allen den Weg.
Mein Gedanke zielte ausschließlich darauf ab, einen angemessenen Palast für uns alle zu errichten, einen Ort, von dem aus ich zum Wohle aller herrschen kann. Bruder Narev war es, der diesen Traum aufgriff und ihm eine moralische Bedeutung verlieh, indem er sich vorstellte, wie jeder beim Anblick dieses Bauwerkes den Platz des Menschen innerhalb der neuen Ordnung vor sich sieht – da der Mensch dem Ruhm des Schöpfers niemals gerecht werden kann und er, als Einzelner, nichts weiter ist als ein bedeutungsloses Mitglied der größeren Gemeinschaft aller Menschen. Deshalb kommt ihm keine andere Rolle zu, als seine bedürftigen Mitmenschen moralisch aufzurichten, damit sie gemeinsam Erfolg haben können. Gleichzeitig wird es aber auch ein Ort sein, der die Menschen zur Demut anhält, denn er wird ihnen im Angesicht der Herrlichkeit ihres Schöpfers ihre völlige Bedeutungslosigkeit vor Augen führen, ihnen die Verderbtheit des Menschen, sein gequältes, gebeugtes, minderwertiges Wesen zeigen, denn darin gleichen sich alle Menschen dieser Welt.«
Nicci sah den Palast beinahe vor sich, als er von ihm sprach. Er würde in der Tat eine der Bescheidenheit förderliche Wirkung auf das Volk haben. Fast wäre es ihm gelungen, sie mit diesem Gerede ebenso zu begeistern, wie dies Bruder Narev wohl seinerzeit gelungen war.
»Deswegen bin ich hier geblieben«, sagte sie leise, »weil der Orden ein rechtschaffenes Ziel verfolgt.«
Der fehlende Mosaikstein war endlich gefunden.
In der Stille küsste Jagang sie erneut. Sie gestattete ihm, den Kuss noch zu beenden, dann löste sie sich aus seiner Umarmung. Mit einem zurückhaltenden Lächeln beobachtete er, wie sie sich erhob und anzukleiden begann.
»Es wird Euch dort gefallen, Nicci. Es wird ein Ort sein, der sich für Euch ziemt.«
»Ach? Als Königin der Sklaven?«
»Als Königin, wenn Ihr wollt. Ich habe vor, Euch mit einer Machtbefugnis auszustatten, wie Ihr sie zuvor noch niemals hattet. Wir werden dort glücklich sein, Ihr und ich, wahrhaft glücklich, und zwar für sehr, sehr lange Zeit.«
Sie streifte einen Strumpf über ihr Bein. »Als Schwester Ulicia und die vier in ihrer Begleitung einen Weg fanden, Euch zu verlassen, entschied ich mich, ihre Entdeckung außer Acht zu lassen und hier zu bleiben, denn ich weiß, dass der Orden der Menschheit die einzige moralische Lebensweise bieten kann. Aber jetzt…«
»Ihr seid geblieben, weil Ihr ohne den Orden ein Nichts wärt.«
Sie wich seinem Blick aus, zog ihr Kleid über den Kopf, steckte die Arme durch die Ärmel und streifte den Rock über die Hüften. »Ohne den Orden bin ich ein Nichts, und mit ihm auch. Das gilt für alle. Wir alle sind fehlerhafte, armselige Kreaturen, das liegt in der Natur des Menschen; so lehrt es uns der Schöpfer. Die Imperiale Ordnung aber zeigt den Menschen, dass es ihre Pflicht ist, ein besseres Leben zum Wohle aller zu führen.«
»Und der Kaiser der Imperialen Ordnung, das bin ich!« Sein gerötetes Gesicht kühlte langsamer ab, als es sich erhitzt hatte. In der völligen Stille machte er eine unbestimmte Handbewegung und fuhr in gemäßigterem Tonfall fort: »Die Welt wird unter der Imperialen Ordnung vereint sein. Wir werden, sobald er fertig ist, im Palast glücklich sein, Nicci. Ihr und ich, unter der geistigen Führung unserer Priester. Ihr werdet sehen. Mit der Zeit, wenn…«