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»Ich gehe.« Sie zog einen Stiefel an.

»Das lasse ich nicht zu.«

Nicci hielt im Überstreifen ihres anderen Stiefels inne und sah in seine unergründlichen Augen. Mit einem Fingerschnippen deutete sie auf eine steinerne, auf einem Tisch an der gegenüberliegenden Wand stehende Vase. Ein Licht blitzte auf. Die Vase explodierte in einer Wolke aus Staub und Splittern, mit einem Geräusch, das den Raum erbeben ließ. Die Wandbehänge zitterten, die Scheiben in den Fenstern schepperten.

Als der Staub sich gelegt hatte, sagte sie: »Ihr lasst es nicht zu?« Sie beugte sich vor und schnürte die Senkel ihrer Stiefel.

Jagang schlenderte zum Tisch hinüber und fuhr mit den Fingern durch den Staub, den einzigen Überresten der steinernen Vase, dann wandte er sich in seiner ganzen nackten Pracht wieder zu ihr um.

»Wollt Ihr mir drohen? Glaubt Ihr tatsächlich, Ihr könntet Eure Kraft gegen mich einsetzen?«

»Ich glaube es nicht« – sie zurrte die Senkel mit einem Ruck fest – »ich weiß es. Die Wahrheit ist, ich habe mich entschieden, es nicht zu tun.«

Er nahm eine trotzige Haltung an. »Und warum?«

Nicci richtete sich auf und sah ihm ins Gesicht. »Weil der Orden, wie Ihr sagt, Euch braucht, beziehungsweise einen Rohling wie Euch. Ihr dient den Zielen der Imperialen Ordnung – Ihr seid ihr langer Arm, Ihr überbringt das reinigende Feuer. Diese Funktion erfüllt Ihr überaus geschickt, man könnte sogar behaupten, Ihr erfüllt diese Aufgabe mit außergewöhnlichem Talent.

Ihr seid Jagang der Gerechte. Ihr erkennt die Weisheit in dem Titel, den ich Euch verliehen habe, und werdet ihn dazu benutzen, die Sache der Imperialen Ordnung zu unterstützen. Das ist der Grund, weshalb ich mich entschieden habe, meine Kraft nicht gegen Euch zu gebrauchen. Das wäre, als setzte ich meine Kraft gegen die Imperiale Ordnung ein, gegen meine Pflicht gegenüber der Zukunft der Menschheit.«

»Warum wollt Ihr dann fort?«

»Weil ich nicht anders kann.« Sie bedachte ihn mit einem Blick eiskalter Entschlossenheit und tödlicher Bedrohung. »Bevor ich fortgehe, werde ich einige Zeit bei Schwester Lidmila verbringen. Ihr müsst Euch augenblicklich und vollständig aus ihrem Verstand zurückziehen und Euch während der gesamten Zeit, die ich in ihrer Gesellschaft weile, von ihr fern halten. Wir werden Eure Zelte benutzen, da Ihr sie zurzeit nicht benötigt. Ihr werdet dafür sorgen, dass niemand uns behelligt, ganz gleich, wie lange wir brauchen. Wer ohne meine ausdrückliche Erlaubnis das Zelt betritt, stirbt. Das gilt auch für Euch, darauf habt Ihr meinen Eid als Schwester der Finsternis. Wenn ich fertig bin, nach meiner Abreise, könnt Ihr mit Schwester Lidmila tun, was immer Euch beliebt – sie töten, falls dies Euer Wunsch sein sollte, obwohl ich nicht recht sehe, warum Ihr Euch die Mühe machen solltet, da sie Euch einen großen Gefallen tun wird.«

»Verstehe.« Seine mächtige Brust hob sich, er atmete tief durch und langsam wieder aus. »Und wie lange werdet Ihr diesmal fort sein, Nicci?«

»Diesmal ist es nicht wie sonst. Diesmal ist es anders.«

»Wie lange?«

»Vielleicht nur kurze Zeit, vielleicht auch sehr lange, ich weiß es noch nicht. Gebt mir die Freiheit zu tun, was ich tun muss, dann werde ich, sofern ich kann, eines Tages zu Euch zurückkehren.«

Er sah ihr in die Augen, doch in ihren Verstand vermochte er nicht hineinzusehen. Ein anderer Mann beschützte ihren Verstand und bewahrte ihre Gedanken davor, geraubt zu werden.

Während all der Zeit, die sie mit Richard verbracht hatte, hatte Nicci niemals in Erfahrung bringen können, wonach es sie am meisten dürstete, in einer Hinsicht hatte sie jedoch zu viel herausgefunden. Die meiste Zeit hatte sie dieses ungewollte Wissen unter dem betäubenden Gewicht der Gleichgültigkeit begraben können. Gelegentlich jedoch stieg es, so wie jetzt, aus seinem Grab hervor und ergriff von ihr Besitz. Dann war sie hilflos in seinem Griff gefangen und konnte nichts tun als abwarten, bis die aus stumpfer Gleichgültigkeit geborene Vergesslichkeit es abermals unter sich begrub.

Den Blick starr in die endlose, finstere Nacht der unmenschlichen Augen Jagangs gerichtet, Augen, in denen sich nichts als die Verderbtheit seiner Seele offenbarte, berührte Nicci mit dem Finger den goldenen Ring, den man auf Geheiß Jagangs durch ihre Unterlippe gebohrt hatte, um sie als seine Leibsklavin zu kennzeichnen. Sie setzte einen fadendünnen Strang Subtraktiver Magie frei, und der Ring hörte auf zu existieren.

»Und wohin werdet Ihr gehen, Nicci?«

»Ich werde Richard Rahl für Euch vernichten.«

15

An den anderen Soldaten hatte sich Zeddicus Z’ul Zorander mit ein paar geschickten Worten und einem gewinnenden Lächeln einen Weg vorbei bahnen können, diese jedoch ließen sich von seiner Erklärung, er sei Richards Großvater, nicht beeindrucken. Vermutlich wäre es besser gewesen, das Feldlager bei Tageslicht zu betreten – er hätte sich eine Menge Argwohn erspart –, aber er war müde und hatte nicht damit gerechnet, dass es so schwierig werden würde.

Die Soldaten waren regelrecht misstrauisch geworden, was ihn überaus erfreute, aber er war erschöpft und hatte Wichtigeres zu tun, als Fragen zu beantworten: er wollte selber welche stellen.

»Aus welchem Grund wollt Ihr ihn sprechen?«, wiederholte der Größere der beiden Posten.

»Wie ich bereits sagte, ich bin Richards Großvater.«

»Ihr meint wohl diesen Richard Cypher, der jetzt, wie Ihr behauptet…«

»Ja, ganz richtig, so lautete sein Name, als er noch klein war, und so habe ich ihn früher immer genannt, ich meinte aber Richard Rahl, den, der er jetzt ist. Ihr wisst schon, Lord Rahl, Euren Anführer. Ich könnte mir denken, als Großvater eines so bedeutenden Mannes wie Eures Lord Rahl habe ich einen gewissen Respekt verdient. Und möglicherweise sogar eine warme Mahlzeit.«

»Genauso gut könnte ich behaupten, ich sei Lord Rahls Bruder«, erwiderte der Mann, ohne seinen festen Griff an der Trense im Maul von Zedds Pferd zu lockern, »deswegen muss es aber noch lange nicht stimmen.«

Zedd seufzte. »Da habt Ihr allerdings Recht.«

So ärgerlich es war, insgeheim empfand Zedd eine gewisse Freude darüber, dass die Männer weder dumm waren noch sich leicht hinters Licht führen ließen.

»Aber ich bin obendrein ein Zauberer«, fügte Zedd hinzu und zog, des dramatischen Effektes wegen, seine Augenbrauen herunter. »Wenn ich nicht freundlich gesinnt wäre, könnte ich Euch beide einfach knusprig schmoren und wäre längst an Euch vorbei.«

»Und wenn ich nicht freundlich gesinnt wäre«, entgegnete der Soldat, »könnte ich – jetzt, da wir Euch so weit haben vordringen lassen, dass Ihr gänzlich umzingelt seid – das Zeichen geben und das Dutzend Bogenschützen, das sich ringsum in der Dunkelheit verbirgt, würde die Pfeile abfeuern, die in diesem Augenblick auf Euch gerichtet sind und es schon waren, seit Ihr Euch unserem Lager genähert habt.«

»Nun ja«, erwiderte Zedd, triumphierend einen Finger hebend, »das ist ja alles gut und schön, nur…«

»Und sollte ich in einem letzten Aufflackern meines Diensteifers für Lord Rahl sterben, würden diese Pfeile auch ohne mein Zeichen abgefeuert werden.«

Verlegen hüstelnd ließ Zedd den Finger sinken, innerlich aber schmunzelte er. Hier stand er, der Oberste Zauberer, und hätte er nicht ein befreundetes Feldlager betreten wollen, er wäre in diesem Spiel gegenseitiger Hänseleien von einem einfachen Soldat übertroffen worden.

Oder vielleicht auch nicht.

»Zum einen, Sergeant, bin ich, wie bereits erwähnt, ein Zauberer, daher weiß ich von den Bogenschützen und habe mich dieser Bedrohung bereits angenommen, indem ich ihre Pfeile verzaubert habe, so dass sie mit der gleichen mangelnden Zielgenauigkeit und mit ebenso geringer tödlicher Wirkung fliegen werden wie nasse Spültücher. Von ihnen habe ich nichts zu befürchten. Zweitens, selbst wenn ich lügen sollte – was Ihr genau in diesem Augenblick in Betracht zieht –, so ist Euch mit der Erwähnung der Bedrohung ein Fehler unterlaufen, denn als Zauberer von großem Ansehen versetzt mich das in die Lage, sie mit Hilfe meiner Magie auszuschalten.«