Verna ließ sich wortlos neben Warren auf die Bank sinken.
»Äh, Zedd…« General Reibisch schluckte gequält. Er zeigte ihm die Mücke. »Ich glaube, mir wird ein wenig schwindelig, Zedd. Könnt Ihr vielleicht etwas tun?«
»Wogegen?«
»Gegen das Fieber. Ich glaube, meine Sehkraft lässt bereits nach. Könnt Ihr denn gar nichts tun?«
»Nein, nichts.«
»Nichts.«
»Nichts, und zwar ganz einfach deswegen, weil Euch überhaupt nichts fehlt. Ich habe die paar Albinomücken nur herbeigezaubert, um meinen Standpunkt zu verdeutlichen. Der springende Punkt ist: Was ich beim Betreten dieses Lagers gesehen habe, hat mich in Angst und Schrecken versetzt. Falls die mit der Gabe Gesegneten unter unseren Feinden auch nur die geringsten teuflischen Neigungen haben – und bei Jagang haben wir allen Grund zu dieser Annahme –, dann ist diese Armee für die eigentliche Art der Bedrohung schlecht gerüstet.«
Schwester Philippa hob zögernd eine Hand, einem Schulmädchen gleich, das eine Frage stellen möchte. »Aber bei den vielen mit der Gabe Gesegneten in unseren Reihen können wir doch sicherlich … müssten wir doch wissen…«
»Genau das versuche ich Euch ja gerade zu erklären: nach der derzeitigen Lage der Dinge werdet Ihr überhaupt nichts wissen. Ihr werdet von Phänomenen überwältigt werden, von denen Ihr nie gehört habt, die Ihr noch nie zu Gesicht bekommen habt, die Ihr nicht erwartet und Euch nicht einmal vorstellen könnt. Zweifellos wird der Feind auch konventionelle Magie einsetzen, und die wird bereits genug Schwierigkeiten machen, wirklich fürchten müsst Ihr allerdings die Albinomücken.«
»Aber Ihr sagtet doch, Ihr hättet sie nur herbeigezaubert, um Euren Standpunkt zu verdeutlichen«, erwiderte Warren. »Vielleicht ist der Feind nicht so gerissen wie Ihr und kommt erst gar nicht auf solche Ideen.«
»Nicht mit Dummheit, sondern mit Unbarmherzigkeit hat die Imperiale Ordnung die gesamte Alte Welt erobert.« Zedds Gesicht verfinsterte sich zusehends. Zur Unterstreichung seiner Worte hob er einen Finger. »Außerdem sind die längst auf genau diese Ideen gekommen. Im Frühling dieses Jahres hat eine der Schwestern in den Händen des Feindes mit Hilfe von Magie eine tödliche Seuche ausgelöst, die von niemandem mit der Gabe aufgespürt werden konnte. Zehntausende von Menschen, angefangen bei den Neugeborenen bis hin zu den Alten, starben eines grausamen Todes.«
Die Schwestern in Feindeshand waren eine große und allgegenwärtige Gefahr. Ann hatte sich allein auf eine Mission begeben, um diese Schwestern entweder zu retten oder zu vernichten. Nach allem, was Zedd bei seinem Aufenthalt in Anderith hatte beobachten können, war Anns Mission gescheitert. Was aus ihr geworden war, wusste er nicht, er wusste nur, dass Jagang die Schwestern nach wie vor in seiner Gewalt hatte.
»Aber wir haben die Seuche eingedämmt«, meinte Warren.
»Richard hat sie eingedämmt, denn nur er war dazu im Stande.« Zedd hielt dem Blick des jungen Zauberers stand. »Wusstest du, dass er sich bis in den hinter dem Schleier des Lebens in der Unterwelt verborgenen Tempel der Vier Winde wagen musste, um uns dieses bittere Schicksal zu ersparen? Weder du noch ich können ermessen, wie sehr ihn dieses Erlebnis mitgenommen haben muss. Ich habe den Schatten des bösen Geistes in seinen Augen gesehen, als er davon erzählte.
Ich kann nicht einmal vermuten, wie geringfügig seine Erfolgsaussichten waren, als er diese so aussichtslose Reise antrat. Hätte er sich nicht gegen alle Wahrscheinlichkeit durchgesetzt, hätte uns alle längst ein unsichtbarer Tod dahingerafft, ausgelöst durch eine Magie, die wir weder wahrnehmen noch bekämpfen können. Ich möchte nicht noch einmal auf eine solch glückliche Rettung angewiesen sein.«
Niemand vermochte ihm zu widersprechen; ein jeder nickte entweder verhalten oder wandte den Blick ab. Das Zelt hatte sich in einen Ort der Hoffnungslosigkeit verwandelt.
Verna fuhr sich mit den Fingern über die Stirn. »Stolz nützt den Toten nichts. Zugegeben, wer von uns die Gabe besitzt, verfügt nur über geringe Erfahrung mit deren Einsatz zu kriegerischen Zwecken. Wir wissen einiges über das Kämpfen, vielleicht sogar eine ganze Menge, aber ich gebe zu, was die Tiefe der erforderlichen Kenntnisse anbelangt, besteht unsererseits eine beklagenswerte Unwissenheit.
Halte uns für töricht, wenn du willst, Zedd, aber denke niemals, dass wir mit dir nicht einer Meinung sind; wir alle hier stehen auf derselben Seite.« Ihre braunen Augen verrieten nichts als schlichte Aufrichtigkeit. »Wir können deine Hilfe nicht nur gut gebrauchen, wir nehmen sie auch gerne dankend an.«
»Selbstverständlich wird er uns helfen«, spottete Adie mit einem tadelnden Seitenblick auf Zedd.
»Nun, Eure Ausgangsposition ist nicht die schlechteste. Das Eingeständnis, nichts zu wissen, ist der erste Schritt auf dem Weg zur Erkenntnis.« Zedd kratzte sich am Kinn. »Ich bin selber jeden Tag aufs Neue überrascht, was ich alles nicht weiß.«
»Das wäre großartig«, sagte Warren. »Wenn Ihr uns helfen würdet, meine ich.« Trotz seiner offenkundigen Unschlüssigkeit zwang er sich weiterzusprechen. »Über die Unterstützung eines echten Zauberers mit seiner Erfahrung würde ich mich wirklich freuen.«
Ob der bedrückenden Last seiner anderen Sorgen der Verzweiflung nahe, schüttelte Zedd den Kopf. »Das täte ich sehr gern, und ganz gewiss werde ich Euch bei der bevorstehenden Aufgabe mit dem einen oder anderen Rat zur Seite stehen, aber ich habe eine lange und frustrierende Reise hinter mir, die, so fürchte ich, noch nicht ganz beendet ist. Ich kann unmöglich bleiben und muss schon sehr bald wieder aufbrechen.«
17
Warren strich sich seine blonden Locken aus dem Gesicht. »Was für eine Art Reise war das, von der Ihr gerade kommt, Zedd?«
Zedd deutete mit einem seiner knochigen Finger auf den General. »Es ist nicht nötig, dass Ihr die zerdrückte Mücke aufbewahrt, General Reibisch.«
General Reibisch merkte, dass er sie noch immer zwischen Daumen und Zeigefinger hielt, und schleuderte sie fort. Alles wartete gespannt auf Zedds Antwort. Das schwere kastanienbraune Gewand über seinen astdürren Schenkeln glatt streichend, betrachtete er gedankenverloren den Lehmboden und seufzte niedergeschlagen. »Nach einer Auseinandersetzung mit einer ungewöhnlichen Art von Magie, wie ich ihr noch nie zuvor begegnet war, war ich damit beschäftigt, mich von meiner wundersamen Rettung zu erholen, und verbrachte, während ich allmählich wieder zur Besinnung kam, Monate mit Suchen. Ich war unten in Anderith und bekam einiges von den Geschehnissen mit, nachdem die Imperiale Ordnung dort eingefallen war. Das war eine finstere Zeit dort für die Menschen, und schuld daran waren nicht nur die plündernden Soldaten, sondern auch eine Eurer Schwestern, Verna. Die Herrin des Todes, so wurde sie genannt.«
»Wisst Ihr, wer das war?«, fragte Verna mit Bitterkeit in der Stimme, als sie erfuhr, dass eine Schwester Leid unter die Menschen brachte.
»Nein. Ich habe sie nur ein einziges Mal aus ziemlicher Entfernung gesehen. Wäre ich vollständig wiederhergestellt gewesen, vielleicht hätte ich versucht, die Situation zu retten, aber ich war noch nicht wieder der Alte und traute mich nicht, ihr die Stirn zu bieten, zumal sie von mehreren Tausend Soldaten begleitet wurde. Der Anblick all dieser Soldaten, angeführt von einer Frau, von der sie bereits gehört hatten und vor der sie sich fürchteten, versetzte die Menschen in Panik. Die Schwester war noch jung und hatte blondes Haar. Sie trug ein schwarzes Kleid.«
»Gütiger Schöpfer«, hauchte Verna. »Sie gehört nicht zu mir – das ist eine Schwester des Hüters. Nur wenige Frauen werden mit einer derart ausgeprägten Kraft geboren.
Darüber hinaus verfügt sie über Kräfte, die sie sich mit ruchlosen Methoden verschafft hat; Nicci ist eine Schwester der Finsternis.«