»Es freut mich zu sehen, dass dein Arm wieder funktioniert«, meinte er. »Dann kannst du dir dein Brot selbst abschneiden.« Als sie protestieren wollte, fuhr er fort: »Das ist nur gerecht. Cara hat es gebacken, das Mindeste, was du tun kannst, ist es abzuschneiden.«
Kahlan klappte der Unterkiefer runter. »Cara hat Brot gebacken?«
»Lord Rahl hat es mir beigebracht«, sagte Cara. »Ich wollte Brot zu meinem Eintopf, richtiges Brot, da meinte er, wenn ich Brot wolle, müsse ich lernen, welches zu backen. Es war eigentlich ganz einfach, ein bisschen so wie bis zum Fenster gehen. Nur war ich erheblich besserer Laune und habe ihm nichts an den Kopf geschmissen.«
Kahlan konnte nicht umhin zu lächeln; mit Sicherheit war es Cara schwerer gefallen, einen Teig zu kneten, als ihr, aufzustehen und bis zum Fenster zu gehen. Irgendwie bezweifelte sie, dass Cara dabei gut gelaunt gewesen war. Diesen Kampf der Starrköpfe hätte sie gerne miterlebt.
»Gib mir meinen Becher zurück, und dann geh etwas Fisch fürs Abendessen fangen. Ich habe Hunger. Ich möchte eine Forelle, und zwar eine große. Und dazu Brot.«
Richard lächelte. »Ganz wie du willst. Wenn du es schaffst, den Tisch zu finden.«
Kahlan fand den Tisch. Von da an aß sie nie wieder im Bett.
Anfangs waren die Schmerzen beim Gehen mehr als sie ertragen konnte, so dass sie immer wieder in ihr Bett flüchtete. Gewöhnlich kam Cara dann herein und bürstete Kahlan das Haar, damit sie nicht allein war. Sie hatte keine Kraft in ihren Muskeln und konnte sich kaum selbstständig bewegen. Das Ausbürsten ihrer Haare kam einer übermenschlichen Anstrengung gleich. Bereits der Gang zum Tisch erschöpfte sie, und anfangs brachte sie nicht mehr zu Stande. Richard und Cara zeigten sich verständnisvoll und ermutigten sie ohne Unterlass, trieben sie aber auch an.
Kahlan war überglücklich, das Bett verlassen zu können, und das half ihr, die Schmerzen zu ignorieren. Die Welt war wieder ein Ort der Wunder. Sie schätzte sich überglücklich, endlich nach draußen auf den Abort gehen zu können. Zwar hatte sie es nie ausdrücklich erwähnt, dennoch war Kahlan sicher, dass auch Cara froh darüber war.
So sehr ihr das gemütliche Heim gefiel, es zu verlassen war, als habe man sie endlich aus einem Verlies befreit. Zuvor hatte Richard ihr des Öfteren angeboten, sie tagsüber nach draußen mitzunehmen, aus Angst vor den Schmerzen hatte sie ihr Bett jedoch nie verlassen wollen. Sie merkte, dass die Schwere ihrer Krankheit ihr Denken im Laufe der Zeit schwerfällig und wirr gemacht hatte. Wie den Sommer, so hatte sie für eine Weile auch sich selbst verloren. Jetzt endlich hatte sie wieder das Gefühl, einen klaren Kopf zu haben.
Sie fand heraus, dass die Aussicht von ihrem Fenster den am wenigsten eindrucksvollen aller Ausblicke bot. Schneebedeckte Gipfel ragten um die winzige, von Richard im Schoß atemberaubender Berge errichtete Hütte in die Höhe. Die einfache Hütte mit einem Schlafzimmer zu beiden Seiten, eins für Richard und Kahlan, eins für Cara, sowie einem Gemeinschaftszimmer in der Mitte, stand am Rand einer Wiese voller samtgrüner Gräser, zwischen denen verstreut einzelne Wildblumen wuchsen. Obwohl die Jahreszeit bei ihrer Ankunft bereits fortgeschritten war, war es Richard gelungen, an einer sonnigen Stelle vor Caras Fenster einen kleinen Garten anzulegen, in dem er frisches Gemüse für ihre Mahlzeiten anbaute, sowie einige Kräuter, um ihrer Küche ein wenig mehr Aroma zu verleihen. Unmittelbar hinter der Hütte ragten hoch über ihren Köpfen riesige Kiefern in die Höhe, die sie vor der ärgsten Wucht des Windes schützten.
Richard hatte seine Schnitzerei fortgeführt, um sich, wenn er an Kahlans Bett saß, sich unterhielt und Geschichten erzählte, die Zeit zu vertreiben, aber nachdem sie endlich das Bett verlassen hatte, änderten sich seine Schnitzereien. Anstelle von Tieren begann Richard Menschen zu schnitzen.
Dann, eines Tages, überraschte er sie mit seiner bis dahin herrlichsten Schnitzerei – um, wie er sagte, zu feiern, dass sie so weit genesen war, dass sie endlich wieder in die Welt hinaustreten konnte. Überrascht vom vollendeten Realismus und der Kraft der kleinen Statuette, erwiderte sie leise, nur die Gabe könne seine Hand beim Schnitzen geführt haben. Richard hielt solches Gerede für Unsinn.
»Menschen ohne die Gabe schnitzen ständig die wunderschönsten Statuen«, sagte er. »Mit Magie hat das nichts zu tun.«
Doch sie wusste, dass einige Künstler die Gabe besaßen und mit ihrer Kunst oft eine magische Wirkung erzielten.
Manchmal sprach Richard wehmütig von den Kunstwerken im Palast des Volkes in D’Hara, wo man ihn gefangen gehalten hatte. Da er in Kernland aufgewachsen war, hatte er niemals zuvor aus Marmor gemeißelte Statuen zu Gesicht bekommen, und erst recht keine, die in so eindrucksvoller Größe oder von so talentierten Händen gemeißelt worden waren. In gewisser Hinsicht hatten ihm diese Kunstwerke die Augen geöffnet, seinen Horizont erweitert und einen bleibenden Eindruck bei ihm hinterlassen. Wer außer Richard hätte die während seiner Gefangenschaft und Folter gesehene Schönheit in angenehmer Erinnerung behalten?
Ohne Zweifel war es richtig, dass Kunst auch unabhängig von Magie existieren konnte, andererseits hatte man Richard überhaupt nur mit Hilfe eines durch Kunst zum Leben erweckten Banns gefangen nehmen können. Kunst war eine universelle Sprache und damit bei der Ausführung von Magie ein Hilfsmittel von unschätzbarem Wert.
Schließlich gab Kahlan es auf, mit ihm darüber zu streiten, ob die Gabe ihm beim Schnitzen half, er glaubte einfach nicht daran. Trotzdem spürte sie, dass sich seine Gabe, die über kein anderes Ventil verfügte, auf diese Weise äußerte. Magie schien stets einen Weg zu finden, sich zu offenbaren, und für sie hatten seine Schnitzereien von Menschen zweifellos etwas Magisches.
Die Frauengestalt jedoch, die er ihr zum Geschenk geschnitzt hatte, rührte sie zutiefst. Er nannte das nahezu zwei Fuß hohe, aus butterweichem, schwerem, duftendem Walnussholz geschnitzte Bildnis Seele . Die Fraulichkeit ihres Körpers, ihre vollkommene Gestalt, ihre Rundungen, ihre Knochen und die Muskulatur zeichneten sich deutlich sichtbar unter ihrem fließenden Gewand ab. Sie sah aus, als sei sie lebendig.
Wie Richard eine solche Meisterleistung vollbracht hatte, überstieg selbst Kahlans Vorstellungsvermögen. Durch diese Frau mit ihrem im Wind wehenden Gewand, dem in den Nacken geworfenen Kopf, der vorgereckten Brust, den an ihren Seiten leicht zu Fäusten geballten Händen und ihrem kraftvoll durchgedrückten Rücken, so als trotze sie einer unsichtbaren Macht, die sie erfolglos zu unterjochen suchte, hatte Richard ein Gefühl von … Seele ausgedrückt.
Ganz offenkundig sollte die Statue Kahlan nicht ähnlich sehen, und doch rief sie in ihrem Innern eine Reaktion hervor, eine Art Spannung, die ihr überraschend vertraut vorkam. Etwas an der Frau in dieser Schnitzerei, ein Wesenszug, der in ihr zum Ausdruck kam, ließ Kahlan danach dürsten, gesund zu werden, wieder lebendig, stark und unabhängig zu sein.
Wenn das keine Magie war…
Kahlan hatte ihr ganzes Leben in prächtigen Palästen zugebracht, war mit jeder Menge Kunstwerken anerkannter Künstler konfrontiert worden, doch keines hatte ihr mit der Wucht seiner visionären Kraft, dem Gefühl individueller Erhabenheit so den Atem verschlagen wie diese stolze, lebenssprühende Frau in ihrem fließenden Gewand. Ihre Kraft und Vitalität schnürten Kahlan die Kehle zu, und sie konnte nicht umhin, Richard in einer sprachlosen Gefühlswallung die Arme um den Hals zu werfen.
19
Mittlerweile verließ Kahlan die Hütte zu jeder sich bietenden Gelegenheit. Die Schnitzfigur Seele stellte sie auf das Fensterbrett, damit sie sie nicht nur vom Bett aus sehen konnte, sondern auch wenn sie sich draußen aufhielt. Sie drehte die Figur so, dass sie stets mit dem Gesicht nach draußen schaute, denn sie hatte das Gefühl, Seele sollte stets der Welt zugewandt sein.
Die Wälder rings um die Hütte waren geheimnisvoll und verlockend; verführerische Pfade verloren sich in schattiger Ferne, und am Ende eines sanft gebogenen Tunnels durch die Bäume konnte sie eben gerade Licht erkennen. Sie brannte darauf, diese schmalen Wege zu erkunden, Wildwechsel, die Richard und Cara auf ihren kurzen Ausflügen zur Kontrolle ihrer Angelschnüre und ihren Beutezügen auf der Suche nach Nüssen und Beeren ausgetreten hatten. Kahlan humpelte mit Hilfe eines Stocks durch die Hütte und über die Wiese, um ihre Beine zu kräftigen; sie wollte Richard unbedingt auf diesen Ausflügen begleiten, durch das laubgefilterte Sonnenlicht und den sanft wehenden Wind, über die Stellen, wo die Felsvorsprünge unter freiem Himmel lagen, und unter den gebogenen, alles umschließenden mächtigen Ästen riesiger Eichen hindurch.