In einer Zimmerecke war eine hölzerne Falltür über einem tiefen Erdkeller, an dessen Rückwand einfache Regale und ein großer mit Vorräten gefüllter Geschirrschrank standen. Unterwegs hatten sie eine Menge Vorräte eingekauft und diese entweder bei Kahlan im Wagen oder auf dessen Rück- oder Seitenwände gebunden transportiert. Auf dem letzten Abschnitt ihres Weges hatten Richard und Cara alles schleppen müssen, da die schmalen Bergpässe, auf denen es keine Straßen gab, für den Wagen unpassierbar waren. Richard war so klug gewesen, den Pfad für sie zu markieren.
Cara hatte gegenüber dem ihren ihr eigenes Zimmer. Wieder auf den Beinen, stellte Kahlan zu ihrer Überraschung fest, dass Cara eine Steinesammlung besaß. Cara sträubte sich allerdings gegen die Bezeichnung ›Sammlung‹ und behauptete, es handele sich um Waffen zu ihrer Verteidigung, für den Fall, dass sie angegriffen wurden und im Haus eingeschlossen waren. Kahlan fand, dass die Steine – alle von unterschiedlicher Farbe – verdächtig hübsch aussahen. Cara beharrte jedoch darauf, es seien tödliche Waffen.
Solange Kahlan ans Bett gefesselt war, hatte Richard entweder auf einem Strohlager im Hauptzimmer oder manchmal auch draußen unter den Sternen geschlafen. Anfangs, wenn sie starke Schmerzen hatte, war Kahlan einige Male aufgewacht und hatte ihn, dösend und den Kopf an die Wand gelehnt, auf dem Fußboden neben ihrem Bett sitzen sehen, jederzeit bereit aufzuspringen, falls sie etwas brauchte, oder um ihr Medizin oder Kräutertee zu reichen. Aus Angst, ihr wehzutun, hatte er nicht bei ihr im Bett schlafen wollen. Für das wohlige Gefühl, ihn neben sich zu spüren, hätte sie selbst das beinahe auf sich genommen. Als sie dann wieder auf den Beinen war, konnte er endlich wieder neben ihr liegen. In jener ersten Nacht mit ihm zusammen im Bett hatte sie sich seine große, warme Hand auf den Bauch gelegt, die Figur Seele angeschaut, die sich als Silhouette im Mondlicht abzeichnete, und auf die nächtlichen Rufe der Vögel, das Gezirpe der Insekten und auf das Geheul der Wölfe gelauscht, bis ihr die Augen zufielen und sie in einen friedlichen Schlummer hinüberglitt.
Am Tag darauf hatte Richard sie zum ersten Mal getötet.
Sie waren am Bach, um nach den Angelschnüren zu sehen, als er zwei gerade gewachsene Weidenzweige abschnitt. Einen davon warf er neben der Stelle, wo sie saß, auf den Boden, und erklärte, dies sei ihr Schwert.
Er schien in ausgelassener Stimmung zu sein und verlangte, sie solle sich verteidigen. Selbst in ausgelassener Laune nahm Kahlan die Herausforderung an, indem sie ihn unvermittelt zu erstechen versuchte – nur um ihn in die Schranken zu weisen. Er kam ihr zuvor und erklärte sie für tot. Sie kämpfte abermals gegen ihn, beim zweiten Mal mit größerem Ernst, und er erledigte sie blitzschnell mit einer überzeugend angetäuschten Enthauptung. Als sie zum dritten Mal auf ihn losging, war sie bereits leicht vergrätzt. Obwohl sie sich bei ihrem Angriff allergrößte Mühe gab, durchkreuzte er elegant ihre Attacke, presste ihr anschließend die Spitze seines Weidenrutenschwerts zwischen die Brüste und erklärte sie zum dritten Mal in Folge für tot.
Danach entwickelte sich daraus ein Spiel, das Kahlan unbedingt gewinnen wollte. Richard ließ sie nie gewinnen, nicht einmal aus Nettigkeit, wenn sie sich wegen der langsamen Fortschritte bei ihrer Kraftzunahme niedergeschlagen fühlte. Wiederholt demütigte er sie vor Caras Augen. Kahlan wusste, dass er es nur tat, damit sie sich einen Ruck gab, ihre Muskeln benutzte und ihre Schmerzen vergaß, um ihren Körper zu straffen und zu kräftigen. Kahlan wollte nichts weiter als gewinnen.
Sie trugen ihre Weidenrutenschwerter beide jederzeit bereit in einer Hülle hinter dem Gürtel. Jeden Tag griff entweder sie ihn oder er sie an, und der Kampf ging los. Anfangs war sie für ihn keine ebenbürtige Gegnerin, was er sie deutlich spüren ließ. Das bestärkte sie nur in ihrer Entschlossenheit, ihm zu beweisen, dass sie keine Anfängerin war, dass es nicht so sehr um ein Kräftemessen ging, sondern einen Kampf um Macht, Überlegenheit und Schnelligkeit. Er machte ihr Mut, bedachte sie aber nie mit falschem Lob. Im Laufe der Wochen brachte sie ihn ganz allmählich so weit, dass er für seine Siege arbeiten musste.
Kahlan hatte den Gebrauch des Schwertes von ihrem Vater, König Wyborn, gelernt. Zumindest war er König gewesen, bevor Kahlans Mutter ihn zum Gefährten nahm. Für eine Konfessor war der Titel ›König‹ ohne jede Bedeutung. König Wyborn von Galea hatte mit seiner Gemahlin und ersten Frau zwei Kinder, somit hatte Kahlan sowohl eine ältere Halbschwester als auch einen Halbbruder.
Kahlan wollte eine gute Figur machen und zeigen, was sie bei ihrem Vater gelernt hatte. Es war frustrierend zu wissen, dass sie weit besser mit einer Waffe umgehen konnte, als sie dies Richard zeigte, was nicht so sehr daran lag, dass sie nicht wusste, was sie tun musste, sondern dass sie es einfach nicht konnte; weder hatten ihre Muskeln schon wieder genug Kraft, noch reagierten sie annähernd schnell genug.
Dennoch war etwas daran verwirrend, denn Richard kämpfte auf eine Weise, der Kahlan weder während ihrer Ausbildung noch in den echten Kämpfen, die sie erlebt hatte, jemals begegnet war. Sie vermochte den Unterschied nicht näher zu beschreiben oder zu analysieren, aber sie spürte ihn und wusste nicht, was sie dem entgegensetzen sollte.
Anfangs hielten Richard und Kahlan die meisten ihrer Gefechte auf der Wiese vor ihrer Hütte ab, damit Kahlan nicht so schnell stolperte, und falls doch, sich dabei nicht den Kopf an einem Felsen aufschlug. Cara bildete ihr stets präsentes Publikum. Mit der Zeit dauerten die Gefechte länger und wurden mit größerer Verbissenheit geführt. Sie wurden wild und anstrengend.
Einige Male brachte die Unerbittlichkeit, mit der Richard ihre Schwertkämpfe anging, Kahlan so sehr aus der Fassung, dass sie noch Stunden danach nicht mit ihm sprach, um nicht versehentlich etwas zu sagen, was sie nicht wirklich meinte und was sie später sicherlich bereuen würde.
Manchmal sagte Richard dann zu ihr: »Spar dir deinen Zorn für den Feind auf. Hier wird er dir nichts nützen; dort kann er die Angst besiegen. Nutze diese Zeit, um deinem Schwert zu zeigen, was es tun muss, um diese Dinge später zu beherrschen, ohne dass du darüber nachdenken musst.«
Kahlan wusste nur zu gut, dass kein Feind sich jemals freundlich verhalten würde. Wenn Richard sich auf Freundlichkeiten einließe und sie mit falschem Stolz belohnte, konnte sich das nur zu ihrem Schaden auswirken. So unbequem diese Lektionen manchmal auch sein mochten, es war unmöglich, Richard lange böse zu sein, vor allem, wenn sie wusste, dass sie im Grunde nur auf sich selber böse war.
Ihr ganzes Leben lang war Kahlan von Waffen umgeben gewesen, und von Soldaten, die diese zu gebrauchen wussten. Einige der Fähigeren von ihnen waren, zusätzlich zu ihrem Vater, ihre Lehrmeister gewesen. Doch keiner von ihnen hatte gekämpft wie Richard. Richard vermochte es, den Kampf mit der Klinge wie eine Kunst aussehen zu lassen, und verlieh dem Akt des Tötens Schönheit. Etwas daran ließ ihr jedoch keine Ruhe, etwas, von dem sie wusste, dass es noch immer ihr Verständnis überstieg.
Vor ihrer Verwundung hatte Richard ihr einmal gestanden, er sei zu der Überzeugung gelangt, Magie selbst sei eine Form der Kunst. Sie hatte geantwortet, sie halte diesen Gedanken für verrückt, jetzt war sie sich dessen nicht mehr so sicher. Aus den Bruchstücken der Geschichte, die sie aufgeschnappt hatte, schloss sie, dass Richard die Magie vermutlich ungefähr auf diese Weise benutzt hatte, um die Chimären zu besiegen: Er hatte eine noch unbekannte Lösung geschaffen, die man sich bis dahin nicht einmal hatte vorstellen können.
Eines Tages war sie bei einem ihrer verbissenen Schwertkämpfe absolut sicher, ihn in einem unbedachten Augenblick ertappt zu haben und ihm den Siegesstoß zu versetzen. Er wich dem, wie sie glaubte, Todesstoß mühelos aus und tötete stattdessen sie. Bei ihm erhielt das Unmögliche den Anschein des Selbstverständlichen.