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Er nahm seinen breiten ledernen Übergurt mit den golddurchwirkten Taschen vom Boden auf und schnallte ihn über seinem prachtvollen Überwurf fest.

»Wenn man der Anführer ist, liegt die Schuld immer bei einem selbst.«

Kahlan wusste, wie sehr dies stimmte. Sie überlegte, wie sie ihn davon abbringen konnte, und versuchte einen anderen Weg.

»Welche Gestalt hat diese Vision angenommen?«

Richard heftete seine stechend grauen Augen auf sie, fast als wollte er sie warnen.

»Vision, Offenbarung, Erkenntnis, Ahnung, Prophezeiung … Einsicht – nenn es, wie du willst, denn in einem Punkt sind diese Begriffe alle gleich und unmissverständlich. Ich kann es nicht anders beschreiben, als dass ich den Eindruck hatte, es immer schon gewusst zu haben. Vielleicht stimmt das sogar. Es waren nicht so sehr Worte, sondern vielmehr ein in sich abgeschlossener Gedanke, eine Schlussfolgerung, eine Wahrheit, die sich mir in aller Klarheit offenbart hat.«

Sie wusste, er erwartete von ihr, dass sie es dabei beließ. »Wenn es sich so deutlich gezeigt hat und unzweideutig war«, hakte sie nach, »müsstest du es eigentlich in Worte fassen können.«

Richard ließ den Waffengurt über seinen Kopf gleiten und führte ihn über seine rechte Schulter. Als er das Schwert an seiner linken Hüfte zurechtrückte, funkelte das Licht auf dem erhabenen Golddraht, der so mit dem Silberdraht des Heftes verwoben war, dass er das Wort WAHRHEIT buchstabierte.

Seine Stirn war eben und sein Gesicht ruhig. Sie wusste, dass sie ihn endlich auf den Kern der Sache gestoßen hatte. Seine Selbstsicherheit verbot ihm, ihr etwas vorzuenthalten, wenn sie es hören wollte, und das tat sie. Seine Worte kamen ruhig und voller Kraft, wie eine zum Leben erwachte Prophezeiung.

»Ich bin zu früh zum Anführer geworden. Nicht ich muss mich den Menschen beweisen, sondern sie müssen sich jetzt mir beweisen. Bis dahin darf ich ihre Führung nicht übernehmen, sonst ist alles verloren.«

Wie er dort stand, aufrecht, ein Bild von einem Mann, gebieterisch in seiner schwarzen Kriegszaubererausrüstung, schien er für ein Standbild dessen zu posieren, der er war: der Sucher der Wahrheit, rechtmäßig ernannt von Zeddicus Z’ul Zorander persönlich, dem Obersten Zauberer und Richards Großvater. Die Ernennung hatte Zedd fast das Herz gebrochen, denn oft starben Sucher jung und eines gewaltsamen Todes.

Solange er aber lebte, war ein Sucher sein eigenes Gesetz. Gestützt auf die Ehrfurcht gebietende Macht seines Schwertes, konnte ein Sucher ganze Königreiche zu Fall bringen. Unter anderem deswegen war es so wichtig, die richtige Person – eine rechtschaffene Person – für dieses Amt zu ernennen. Zedd behauptete, in gewisser Weise ernenne der Sucher sich durch seine Art zu denken und zu handeln selbst, und die Aufgabe des Obersten Zauberers bestehe lediglich darin, seinen Beobachtungen gemäß zu handeln, ihn offiziell zu ernennen und ihm die Waffe zu überreichen, die ihn sein Leben lang begleiten würde.

In diesem Mann, den sie liebte, trafen so viele unterschiedliche Eigenschaften und Verantwortungen aufeinander, dass sie sich manchmal fragte, wie er sie alle in Einklang bringen konnte.

»Bist du dir sicher, Richard?«

Wegen der Bedeutung des Amtes hatten erst Kahlan und dann Zedd geschworen, Richard, den frisch ernannten Sucher der Wahrheit, mit ihrem Leben zu verteidigen. Das war geschehen, kurz nachdem Kahlan ihn kennen gelernt hatte. Als Sucher hatte Richard zum ersten Mal die ganze ihm aufgebürdete Verantwortung übernommen und sich des in ihn gesetzten Vertrauens würdig erwiesen.

Seine grauen Augen leuchteten geradezu vor Klarheit und Entschlossenheit, als er ihr antwortete.

»Ich darf mich nur einer einzigen Macht unterwerfen, der Vernunft, und das erste Gesetz der Vernunft besagt: was existiert, existiert; es gibt, was es gibt. Auf dieses unabänderliche, unerschütterliche Prinzip gründet sich alles Wissen. Das ist das Fundament, von dem aus man das Leben in die Arme schließt. Vernunft bedeutet die Möglichkeit der Wahl. Wünsche und Launen sind weder Tatsachen, noch stellen sie eine Möglichkeit dar, diese zu entdecken. Vernunft ist unsere einzige Möglichkeit, die Wirklichkeit zu erfassen – sie ist unser elementares Werkzeug im Überlebenskampf. Es steht uns frei, die Mühen des Denkens zu umgehen und die Vernunft abzulehnen, doch ob wir der Strafe des Abgrunds entgehen, den zu sehen wir uns weigern, steht nicht in unserer Macht.

Wenn es mir nicht gelingt, diesen Kampf mit den Mitteln der Vernunft zu führen, wenn ich meine Augen vor der Wirklichkeit dessen, was existiert, zu Gunsten dessen, was ich mir lieber wünsche, schließe, dann werden wir beide an diesem Kampf zu Grunde gehen, noch dazu vergeblich. Wir werden bei diesem grauen, trostlosen Untergang der Menschheit nur zwei weitere in einem Heer aus zahllosen Millionen von Toten sein. In der sich daran anschließenden Finsternis werden unsere Knochen nichts sein als bedeutungsloser Staub.

Irgendwann, von jetzt an in vielleicht eintausend Jahren, vielleicht auch mehr, wird die Fackel der Freiheit möglicherweise wieder über einem freien Volk erstrahlen, bis dahin jedoch werden Millionen und Abermillionen von Menschen in hoffnungsloses Elend hineingeboren und keine andere Wahl haben, als das Joch der Imperialen Ordnung auf sich zu laden. Wenn wir die Vernunft missachten, werden wir es sein, die sich diese Berge zerschundener Körper, diesen Trümmerhaufen aus erduldeten, aber nicht gelebten Leben, eingehandelt haben.«

Kahlan merkte, dass sie nicht den Mut aufbrachte, etwas zu erwidern, geschweige denn zu widersprechen; hätte sie es in diesem Augenblick getan, wäre das der Bitte gleichgekommen, sein Urteil um einen Preis zu revidieren, der seiner Ansicht nach aus einem Meer von Blut bestand. Doch wenn sie sich so verhielten, wie er dies als zwingend erachtete, würden sie ihr Volk hilflos in den Rachen des Todes werfen.

Kahlan, deren Blickfeld unter wässrigen Schlieren verschwamm, sah fort.

»Cara«, sagte Richard, »spannt die Pferde vor den Wagen. Ich werde einen Rundgang machen und dafür sorgen, dass wir keine Überraschung erleben.«

»Ich werde einen Erkundungsgang machen, während Ihr die Pferde einspannt. Ich bin Eure Wächterin.«

»Und Ihr seid meine Freundin. Ich kenne das Land besser als Ihr. Spannt die Pferde ein und macht keine Schwierigkeiten.«

Cara verdrehte die Augen und tat beleidigt, marschierte aber los, um seiner Bitte nachzukommen.

Das Zimmer hallte von Stille wider. Richards Schatten glitt von der Decke. Als Kahlan ihm mit leiser Stimme ihre Liebe gestand, hielt er inne und drehte sich um. Seine Schultern schienen das Gewicht zu verraten, das auf ihm lastete.

»Ich wünschte, ich könnte es, aber ich kann die Menschen nicht zwingen, zu verstehen, was Freiheit heißt. Tut mir Leid.«

»Vielleicht ist es ja gar nicht so schwer.« Kahlan deutete auf den Vogel, den er in die Wand geschnitzt hatte. »Zeige ihnen einfach dieses Bild, und sie werden verstehen, was Freiheit wirklich bedeutet: Dahingleiten auf den eigenen Schwingen.«

Richard lächelte, dankbar, wie sie fand, bevor er durch die Tür nach draußen verschwand.

3

Das Durcheinander der vielen beunruhigenden Gedanken, die ihr durch den Kopf gingen, hinderten Kahlan daran, wieder einzuschlafen. Sie versuchte Richards Vision über die Zukunft aus ihren Gedanken zu verbannen, doch so sehr die Schmerzen sie erschöpft hatten, seine Worte waren zu besorgniserregend, um über sie nachzudenken, zumal sie im Augenblick ohnehin nichts tun konnte. Aber sie war entschlossen, ihm zu helfen, über den Verlust von Anderith hinwegzukommen und sich auf das Aufhalten der Imperialen Ordnung zu konzentrieren.

Schwieriger war es, ihren Gedanken an die Männer abzuschütteln, die draußen gestanden hatten, Männer, mit denen Richard aufgewachsen war. Die quälende Erinnerung an ihre wütenden Drohungen ging ihr noch immer durch den Kopf. Sie wusste, dass ganz normale Männer, die nie zuvor gewalttätig geworden waren, sich unter entsprechenden Umständen zu äußerster Brutalität hinreißen lassen konnten. Angesichts ihrer Angewohnheit, die Menschen als sündig, niederträchtig und böse zu betrachten, war es nur noch ein kleiner weiterer Schritt, dieses Böse auch tatsächlich in die Tat umzusetzen, schließlich hatten sie für alles Böse, das sie anrichteten, die vernünftige Erklärung parat, es sei durch die unabwendbare Natur des Menschen längst vorbestimmt.