Als Richard später in ihren Armen lag, spürte sie, wie eine Träne aus seinem Gesicht rollte, und fragte ihn, ob etwas nicht in Ordnung sei. Er schüttelte den Kopf und meinte zurückhaltend, er habe so lange befürchtet, sie zu verlieren, dass er manchmal schon geglaubt hatte, nicht länger Herr seines Verstandes zu sein. Er schien sich von seinem ganz persönlichen Albtraum befreien zu können. Der Schmerz, den Kahlan anfangs, als sie sich nicht einmal mehr an seinen Namen erinnern konnte, in seinen Augen gesehen hatte, war endlich verbannt.
Ihre Fußmärsche in die Berge hinein wurden immer ausgedehnter. Manchmal nahmen sie ihre Rucksäcke mit und verbrachten die Nacht im Wald, oft, sofern sie eine finden konnten, unter einer Launenfichte. Das zerklüftete Gelände bot eine unendliche Vielfalt von Ausblicken; an manchen Stellen ragten senkrechte Felsenklippen über ihnen in die Höhe, dann wieder verfolgten sie – am Rand eines jähen Abgrunds stehend –, wie die untergehende Sonne den Himmel orange und purpurrot verfärbte, während dünne Wolkenschleier unten durch die grünen Täler zogen. Sie suchten hoch aufragende Wasserfälle auf, die ihre eigenen Regenbogen erzeugten. In den Bergen gab es klare, sonnendurchflutete Wasserbecken, in denen sie schwammen. Sie speisten auf Felsen, die eine zerklüftete Landschaft überblickten und die bisher wohl niemand außer ihnen je zu Gesicht bekommen hatte. Sie folgten Tierspuren durch endlose Wälder aus knorrigen Bäumen und spürten anderen auf dem dunklen Waldboden nach, aus dem Bäume mit Stämmen wie gewaltige braune Säulen wuchsen, die so mächtig waren, dass zwanzig Männer sie mit den Händen nicht hätten umfassen können.
Richard ließ Kahlan mit dem Bogen üben, um ihre Arme zu kräftigen. Sie jagten Kleinwild für den Topf oder zum Rösten. Einige räucherten und trockneten sie zusammen mit den Fischen, die sie fingen. Normalerweise aß Richard kein Fleisch, gelegentlich aber doch. Der Verzicht auf Fleisch war Teil jenes Ausgleichs, den seine Gabe benötigte, wenn er gezwungen war zu töten. Dieses Bedürfnis nach Ausgleich war im Schwinden begriffen, da er niemanden tötete; er hatte seinen inneren Frieden gefunden. Vielleicht wurde diesem Ausgleich jetzt durch seine Schnitzereien Genüge getan. Mit der Zeit konnte er immer mehr Fleisch essen. Auf ihren Ausflügen bestand ihre Ernährung, zusätzlich zu dem Wild, das sie fingen, gewöhnlich aus Reis mit Bohnen, Gerstenmehlfladen und den Beeren, die sie unterwegs sammelten.
Kahlan half, Fische zu putzen, sie in Salz einzulegen oder für ihre Wintervorräte zu räuchern, eine Arbeit, die sie noch nie zuvor gemacht hatte. Sie sammelten Beeren, Nüsse und wilde Äpfel, die sie in großer Zahl zusammen mit dem Wurzelgemüse, das sie vor ihrem Aufstieg in die Berge gekauft hatten, im Erdkeller einlagerten. Richard grub kleine Apfelbäume aus, wenn er welche fand, und pflanzte sie unweit der Hütte auf der Wiese ein, um eines Tages, wie er sagte, jederzeit Äpfel zu haben.
Kahlan fragte sich, wie lange er sie noch von jenem Ort fern halten wollte, wo sie dringend gebraucht wurden. Die stumme Frage hing immer in der Luft, jeder sah sie, doch niemand sprach sie aus. Cara fragte ihn nie danach, manchmal aber, wenn sie allein waren, machte sie Kahlan gegenüber diesbezüglich eine vorsichtige Andeutung. Sie war Lord Rahls Beschützerin und froh, in seiner unmittelbaren Nähe sein zu können, daher beschwerte sie sich im Allgemeinen nicht. Schließlich war er der Lord Rahl und außerdem in Sicherheit.
Kahlan hatte die Last ihrer Verpflichtungen niemals ablegen können. Wie die hohen Berge, die zu allen Seiten über ihnen in die Höhe ragten und stets ihre Schatten auf sie warfen, konnte sie diese Verpflichtungen niemals ganz verdrängen. So sehr sie die Hütte liebte, die Richard am Rand der Wiese errichtet hatte, und so sehr es ihr gefiel, die zerklüfteten, wunderschönen, imposanten und endlosen Berge zu erkunden – mit jedem Tag, der verstrich, spürte sie zunehmend die Last und das bange Verlangen, an jenen Ort zurückzukehren, wo sie am meisten gebraucht wurden. Die Vorstellung, was alles geschehen konnte, ohne dass sie etwas davon mitbekamen, zerfraß sie innerlich. Die Imperiale Ordnung würde nicht an Ort und Stelle verharren, eine Armee von dieser Größe verweilte nur widerwillig an einem Ort. Soldaten, besonders Soldaten dieses Schlags, wurden unruhig, wenn sie lange im Feldlager festsaßen, und früher oder später würden sie Schwierigkeiten machen. Sie sorgte sich um all die Menschen, denen Richards – und ihre – Gegenwart Mut machte und die auf seine Führung angewiesen waren, dass die Mutter Konfessor sich für sie einsetzte.
Da es allmählich Winter wurde, hatte Richard Kahlan einen warmen Überwurf genäht, größtenteils aus Wolfsfell. Die beiden anderen Felle stammten von Kojoten. Einen der Kojoten hatte Richard mit einem wahrscheinlich bei einem Absturz gebrochenen Bein gefunden und ihn von seinem Elend erlöst. Bei dem anderen handelte es sich um einen von der hiesigen Meute fortgejagten bösartigen Einzelgänger, der es sich zur Gewohnheit gemacht hatte, Lebensmittel aus ihrer kleinen Räucherkammer zu stehlen. Richard hatte den durchtriebenen Räuber mit einem einzigen Pfeil erlegt.
Die meisten Wolfspelze hatten sie von verletzten oder alten Tieren genommen. Oft gingen Richard, Kahlan und Cara den Spuren der Wolfsrudel nach, damit Kahlan wieder zu Kräften kam. Mit der Zeit lernte Kahlan, ihre Spuren zu lesen und bereits auf den ersten Blick zu unterscheiden, ob die Abdrücke, sofern sie sich in Schlamm oder weicher Erde befanden, von ihren Vorderpfoten oder Hinterläufen stammten. Richard zeigte ihr, dass die Zehen vorne ein wenig gespreizter waren, während sich der Fersenballen hinten deutlicher abzeichnete. Er hatte in den Bergen mehrere Rudel aufgespürt, und oft folgten die drei einer Gruppe oder einer Familie, nur um herauszufinden, ob es ihnen von den Wölfen unbemerkt gelang. Richard sagte, dies sei eines der Spiele, die sie früher als Waldführer gespielt hätten, um in der Übung zu bleiben und ihre Sinne zu schärfen.
Als Kahlans Mantel fertig war, begannen sie damit, Felle für Caras Winterpelz zu sammeln. Cara gefiel die Vorstellung, dass Richard ihr, die stets ihre Berufskleidung trug, etwas zum Anziehen nähte – das Gleiche, das er auch Kahlan genäht hatte. Zwar hatte sie es nie ausdrücklich gesagt, dennoch hatte Kahlan stets das Gefühl, dass Cara den Mantel, den er für sie nähte, als Zeichen seiner Zuneigung, seines Respekts betrachtete – und als Beweis dafür, dass sie mehr war als nur seine Leibwächterin.
Dieser Ausflug hatte dazu gedient, Felle für Caras Mantel zu suchen, und sie war mit Begeisterung bei der Sache gewesen; sie hatte sogar für sie gekocht.
Als sie jetzt von dem Grat herunterstiegen, auf dem Kahlan Richard zum ersten Mal in einem Schwertkampf besiegt hatte, war Kahlan guter Dinge. Während der letzten beiden Tage hatten sie ein Wolfsrudel oben in den Bergen westlich ihrer Hütte verfolgt. Es war nicht einfach nur eine Jagd gewesen, auch ging es nicht ausschließlich darum, ein Fell für Cara zu bekommen, sondern es war Teil des niemals nachlassenden Drucks, unter den Richard Kahlan setzte, damit sie sich behauptete.
Fast jeden Tag während der vergangenen zwei Monate hatte Richard sie durch schwierigstes Gelände marschieren lassen, Gelände, das sie zwang, jeden einzelnen Muskel ihres Körpers zu belasten. Mit dem Anwachsen ihrer Kräfte waren Kahlans Wanderungen immer länger geworden. Anfangs hatten sie nur quer durch die Hütte geführt, mittlerweile führten sie mitten durch das Hochgebirge. Darüber hinaus attackierte er sie häufig mit dem Weidenschwert und machte sich über sie lustig, wenn sie ihm nicht nach besten Kräften Widerstand leistete.