»Welche Befehle hat Richard ihnen für den Rückweg mitgegeben?«
»Gar keine.«
»Gar keine? Er hat ihnen keinerlei Befehle mitgegeben?«
Cara schüttelte den Kopf und beugte sich vor, um den Lappen erneut einzutunken. »Allerdings hat er dem General einige Briefe geschrieben.«
Sie nahm die Decke herunter, hob den Verband an Kahlans Seite an und untersuchte dessen blassroten Inhalt, bevor sie ihn auf den Boden warf. Behutsam säuberte sie die Wunde.
Als Kahlan wieder atmen konnte, fragte sie: »Habt Ihr die Briefe gesehen?«
»Ja. Sie enthalten so ziemlich genau das, was er Euch erzählt hat – dass er eine Vision hatte, die ihn dazu brachte, das Wesen dessen zu erkennen, was er tun muss. Er erklärte dem General, er könne keine Befehle erteilen, da er befürchten muss, unsere Chancen damit endgültig zunichte zu machen.«
»Hat General Reibisch geantwortet?«
»Lord Rahl hatte eine Vision. Die D’Haraner wissen, dass Lord Rahl sich mit den beängstigenden Rätseln der Magie herumschlagen muss, sie erwarten nicht, ihren Lord Rahl zu verstehen, und würden sein Verhalten daher nie in Frage stellen; schließlich ist er der Lord Rahl. Der General gab keinen Kommentar ab, ließ jedoch ausrichten, er werde nach eigenem Ermessen handeln.«
Vermutlich hatte Richard ihnen aus ebendiesem Grund erzählt, es sei eine Vision gewesen und nicht einfach nur eine Erkenntnis. Kahlan dachte einen Augenblick darüber nach und wog die Möglichkeiten ab.
»Dann haben wir Glück. General Reibisch ist ein fähiger Mann und wird wissen, was zu tun ist. Nicht mehr lange, und ich bin wieder auf den Beinen, vielleicht geht es bis dahin auch Richard wieder besser.«
Cara warf den Lappen in den Eimer. Die Stirn enttäuscht und voller Sorge gerunzelt, beugte sie sich noch weiter vor.
»Mutter Konfessor, Lord Rahl meinte, er werde nicht als unser Führer in Erscheinung treten, solange sich das Volk ihm gegenüber nicht bewiesen hat.«
»Ich bin auf dem Weg der Besserung. Hoffentlich kann ich ihm helfen, über das Geschehene hinwegzukommen – und zu erkennen, dass er kämpfen muss.«
»Aber es geht um Magie.« Sie zupfte am ausgefransten Rand der blauen Decke. »Lord Rahl meinte, es sei eine Vision gewesen. Wenn sie etwas mit Magie zu tun hat, dann kennt er sich damit aus und muss sich damit auf die Art befassen, die er als unumgänglich ansieht.«
»Wir müssen ein wenig Verständnis dafür aufbringen, was er durchgemacht hat – für den Verlust, den wir alle durch die Imperiale Ordnung erlitten haben –, außerdem dürfen wir nicht vergessen, dass Richard nicht mit Magie aufgewachsen ist, und erst recht nicht mit der Führung von Armeen.«
Cara ging in die Hocke und wusch ihren Lappen im Eimer aus. Nachdem sie ihn ausgewrungen hatte, ging sie abermals daran, die Wunde an Kahlans Seite zu säubern. »Aber er ist Lord Rahl. Hat er nicht schon viele Male bewiesen, dass er ein Meister der Magie ist?«
Zumindest das konnte Kahlan nicht bestreiten, trotzdem war seine Erfahrung immer noch begrenzt, und Erfahrung war wertvoll. Cara hatte nicht nur Angst vor Magie, sondern ließ sich leicht von jeder Zauberei beeindrucken. Wie die meisten Menschen vermochte sie nicht zu unterscheiden zwischen einem simplen Zaubertrick und jener Art von Magie, die fähig war, die Welt in ihrem Wesen zu verändern. Kahlan erkannte, dass Richard im Grunde keine Vision gehabt, sondern zu einer Überzeugung gelangt war.
Vieles von dem, was er gesagt hatte, ergab Sinn, trotzdem war Kahlan überzeugt, dass er sich bei seinen Überlegungen von Gefühlen leiten ließ.
Cara sah von ihrer Arbeit auf. In ihrer Stimme schwang ein Unterton von Unsicherheit, wenn nicht gar hoffnungsloser Verwirrung mit. »Wie sollen die Menschen sich Lord Rahl jemals beweisen können, Mutter Konfessor?«
»Ich habe nicht die leiseste Ahnung.«
Cara legte den Lappen fort und sah Kahlan in die Augen. Es entstand eine lange, verlegene Pause, bevor sie sich endlich dazu durchrang zu sprechen.
»Mutter Konfessor, ich glaube, Lord Rahl hat am Ende gar seinen Verstand verloren.«
Kahlans erster Gedanke war, ob General Reibisch nicht vielleicht dasselbe glaubte.
»Ich dachte, die D’Haraner erwarten gar nicht, ihren Lord Rahl zu begreifen, weshalb sie sein Verhalten niemals hinterfragen würden.«
»Lord Rahl meinte außerdem, ich soll für mich selber denken.«
Kahlan legte ihre Hand auf Caras. »Wie oft haben wir früher schon an ihm gezweifelt? Erinnert Ihr Euch noch an das Huhn, das keines war? Wir dachten beide, er sei verrückt. Aber das war er nicht.«
»Hier geht es nicht um irgendein Ungeheuer, das es auf uns abgesehen hat. Hier geht es um etwas sehr viel Umfassenderes.«
»Befolgt Ihr Richards Befehle immer, Cara?«
»Natürlich nicht. Er muss beschützt werden, und ich darf nicht zulassen, dass seine Torheiten mich in der Ausübung meiner Pflicht behindern. Ich befolge seine Befehle nur, wenn er dadurch nicht in Gefahr gerät, wenn sie mir etwas vorschreiben, was ich ohnehin getan hätte, oder wenn sein männlicher Stolz betroffen ist.«
»Habt Ihr Darken Rahls Befehle stets befolgt?«
Cara versteifte sich, als sie unerwartet mit diesem Namen konfrontiert wurde, so als könnte seine Nennung ihn aus der Welt der Toten zurückrufen. »Die Befehle Darken Rahls wurden befolgt, ganz gleich wie unsinnig sie waren, oder man wurde zu Tode gefoltert.«
»Und welchen Lord Rahl respektiert Ihr?«
»Ich würde für jeden Lord Rahl mein Leben hergeben.« Nach kurzem Zögern legte sie die Fingerspitzen auf das rote Leder über ihrem Herzen. »Aber für niemanden sonst könnte ich so empfinden. Ich … liebe Lord Rahl. Nicht, wie Ihr ihn liebt, nicht so, wie eine Frau einen Mann liebt, aber Liebe ist es trotzdem. Manchmal träume ich davon, wie stolz ich bin, ihm zu dienen und ihn zu verteidigen, und manchmal habe ich Albträume, ich könnte ihn enttäuschen.«
Eine plötzliche Befürchtung ließ Cara die Stirn runzeln. »Ihr werdet ihm doch nicht erzählen, ich hätte gesagt, dass ich ihn liebe, oder? Er darf auf keinen Fall davon erfahren.«
Kahlan lächelte. »Ich glaube, Cara, das weiß er längst, schließlich hegt er für Euch ganz ähnliche Gefühle, aber wenn Ihr es wünscht, werde ich kein Wort darüber verlieren.«
Cara seufzte erleichtert. »Gut.«
»Und wie kam es, dass Ihr so für ihn empfindet?«
»Das hat viele Gründe … Er möchte, dass wir für uns selber denken. Er erlaubt uns, ihm zu dienen – aus freien Stücken. Kein Lord Rahl zuvor hat das je getan. Ich weiß genau, wenn ich ihn verlassen wollte, würde er mich freigeben. Er würde mich dafür niemals zu Tode foltern lassen, sondern mir ein glückliches Leben wünschen.«
»Das ist es, was Ihr unter anderem an ihm so schätzt: Er hat sich niemals angemaßt, einen Anspruch auf Euer Leben zu besitzen. Er ist der festen Überzeugung, dass ein solcher Anspruch von Rechts wegen niemals existieren kann. Zum ersten Mal seit Eurer Gefangennahme und Ausbildung zur Mord-Sith habt Ihr ein Gefühl davon bekommen, was wahre Freiheit ist.«
»Genau das ist es, Cara, was Richard sich für alle wünscht.«
Sie machte eine wegwerfende Handbewegung, so als wollte sie den Ernst der ganzen Angelegenheit von sich weisen. »Es wäre dumm von ihm, mir die Freiheit zu schenken, wenn ich ihn darum bitte. Dafür braucht er mich viel zu sehr.«
»Ihr müsst ihn nicht um Eure Freiheit bitten, Cara, das wisst Ihr doch. Ihr habt sie längst, und dass Ihr das wisst, habt Ihr ebenfalls ihm zu verdanken. Das macht ihn zu einem Anführer, dem zu folgen eine Ehre ist. Deswegen empfindet Ihr so für ihn. Er hat Eure Treue verdient.«
Cara dachte darüber nach.
»Ich glaube trotzdem, dass er den Verstand verloren hat.«
In der Vergangenheit hatte Richard mehr als einmal seiner Überzeugung Ausdruck verliehen, dass die Menschen richtig handeln, vorausgesetzt, man gibt ihnen Gelegenheit dazu. Genau das hatte er bei den Mord-Sith getan, und das war es auch, was er im Fall des Volkes von Anderith getan hatte. Jetzt jedoch…