"Ja."
"Gut. Aber wie gesagt, wir wollen alles gründlich bedenken, unabhängig von all diesem." Der alte Mann legte seine Hand auf das Buch vor ihm. "Du weißt, daß ich mich eingehend mit den alten Schriften und Überlieferungen befaßt habe. Danach zu urteilen, hat es immer diese zwei Seiten gegeben: auf der einen Seite wir, die Menschen – auf der anderen Seite sie, die Vampire. Man kann natürlich fragen, warum. Und viele alte Schriften tun das auch. Meistens fragen sie gleichzeitig nach Gott, nach dem Schöpfer aller Dinge, und nach der Rolle, die wir oder die Vampire im Schöpfungsplan spielen. Die unangenehmste Antwort ist meist die, daß wir Menschen vielleicht einfach nur als Futter für die Vampire dienen sollen. Das gefällt uns nicht. Mir gefällt das auch nicht, ebensowenig wie dir, aber andererseits können wir unser Gefallen oder Mißfallen nicht zum Maßstab aller Dinge machen, nicht wahr? Etwas ist so, wie es ist, unabhängig davon, ob es mir gefällt oder nicht. Eine andere Erklärung, die immer wieder gefunden wird, ist, daß es einfach immer ein Gleichgewicht geben muß zwischen der Zahl der Menschen und der Zahl der Vampire. Wenn es viele Menschen gibt, steigt die Zahl der Vampire, und diese dezimieren wieder die Anzahl der Menschen. Gibt es umgekehrt zu wenig Menschen, verhungern viele Vampire, und die Menschen können sich wieder vermehren. Ohne die Vampire, heißt das, würden wir Menschen uns schrankenlos, ins Unermeßliche vermehren." Gurot spreizte die Finger. "Aber, wie gesagt, das ist auch nur ein Erklärungsversuch, der uns nicht zu gefallen braucht. Was man mit Sicherheit sagen kann, ist, daß wir nicht wissen, wozu Vampire da sind. Wir wissen aber auch nicht, wozu der Tag da ist oder die Nacht. Wir wissen nicht einmal, wozu wir selber da sind, oder wozu es so etwas wie Leben überhaupt gibt. Letztlich ist alles ein Mysterium. Alles ist einfach so, wie es ist."
Gurot sah in die Runde, in andachtsvoll lauschende Gesichter. "Ich muß wohl nicht erwähnen, daß in den alten Schriften nirgends, nicht an einer einzigen Stelle, die Rede davon ist, daß es jenseits der Berge so etwas wie ein gesegnetes Land geben könnte. In den Überlieferungen existiert nicht der geringste Hinweis auf ein Land, wo keine Vampire, sondern nur glückliche Menschen leben. Allerdings sprechen die Schriften von einem gelobten Land, aber um dorthin zu gelangen, muß man ein gottgefälliges Leben im Diesseits führen, ein Leben der Arbeit, der Entsagungen und der Prüfungen. Das ist natürlich anstrengend und unangenehm. Daß man dieses gelobte Land auch anders, nämlich durch einen einfachen Fußmarsch erreichen könne – das hat noch nie jemand behauptet. Noch nie bis heute abend. Bis du kamst, Siren. Sag mir eines: findest du das nicht selber merkwürdig?"
"Vielleicht ist vor mir noch nie jemand zurückgekehrt von dort?"
"Ah ja?" Gurot hob die Augenbrauen. "Aber jetzt bist ja du da, nicht wahr? Jetzt wird alles anders. Die heiligen Schriften, die alten Bücher, das können wir alles bedenkenlos verbrennen, denn du bringst uns ja die Wahrheit. Unsere zahllosen Toten können wir vergessen, denn sie sind ja ganz sinnlos gestorben. Denn ein Zeitalter geht zu Ende heute abend, nicht wahr, und ein neues beginnt. Sollen wir es das Zeitalter des Siren nennen?" Seine Stimme war schneidend scharf geworden.
Siren schaute hilflos drein. "Ich kann euch nur sagen, daß ich…"
"Ganz zweifellos glaubst du, was du sagst, Siren", nickte Gurot. "Ich glaube dir. Wirklich. Ich bin der festen Überzeugung, daß du wirklich glaubst, jenseits der Berge liege die Erlösung."
"Ja?"
"Ja, sicher. Siehst du, Siren, mir geht es so, daß ich das gerne auch glauben würde. Wirklich, mein Herz brennt danach, dir zu glauben. Aber mein Kopf…" Er lehnte sich zurück und lächelte wehmütig. "Mein Kopf kennt mittlerweile die Schliche des Herzens. Das Herz glaubt, was es sich wünscht. Höre mir nun gut zu, Siren, und versuche von meiner Lebenserfahrung zu profitieren. Ich will dich nicht verurteilen. Ich möchte dir nur erklären, was in dir vorgeht. Man glaubt das, von dem man sich wünscht, es wäre so. Und es ist immer das Herz, das sich etwas wünscht. Es ist auch das Herz, das Angst hat. Und wenn das Herz in Aufruhr gerät, dann denkt der Kopf nicht mehr klar, dann gerät er in Fieber und verstrickt sich in die unglaublichsten Hirngespinste. Wer von uns hat das noch nicht erlebt? Man verliebt sich in ein Mädchen – und schon gewinnt man aus der kleinsten Freundlichkeit, die sie einem erweist – und ebenso leicht aus jeder Unfreundlichkeit – die unumstößliche Gewißheit, daß sie unsere Liebe insgeheim erwidert. Sagt, erinnere ich mich da richtig?"
Die Männer lachten.
"Versuche dich zu erinnern, was in dir vorgegangen ist, Siren. Ich weiß es nicht, du allein weißt es. Du hast vielleicht überlegt, was für ein erbärmliches Leben das ist, das da auf dich wartet: Ein Leben, in dem es heißt, einem kargen, felsigen Boden Nahrung abzutrotzen, und dabei ständig Angst haben zu müssen vor den Vampiren. Du weißt nicht, ob du einmal so alt wirst wie ich, oder ob du morgen schon stirbst. Es ist unangenehm, über all das nachzudenken. Und vielleicht hast du dich in eine Phantasie geflüchtet. Doch solange man noch weiß, daß es nur eine Phantasie ist, kann sie einen nicht trösten, vergeht die Angst nicht. Es muß zur Gewißheit werden. Du steigerst dich hinein, du glaubst fest daran, zweifelst nicht mehr an der Realität dessen, was du glaubst – aber unter der Oberfläche bleibt ein leiser Zweifel. Dieser heimliche Zweifel ist es, der dich antreibt, andere überzeugen zu wollen. Dein Kopf ist in Phantasien verstrickt, und er will die Bestätigung anderer: wenn andere dir zustimmen, dir sagen, daß du recht hast, dann kannst du es besser glauben, als wenn du allein bleibst damit…"
"Es ist genug, alter Mann!" rief Siren wütend und sprang auf. Becher fielen um. Jeder hielt den Atem an. Noch nie hatte jemand gewagt, Gurot derart zu unterbrechen. "Du versuchst mit tausend klugen Worten die Wahrheit hinwegzuerklären, nichts weiter. Bleib von mir aus bei deinen staubigen alten Büchern, wenn sie dir mehr bedeuten als dein Leben! Ich sage euch nur, ich bin dortgewesen, im gelobten Land, und morgen früh werde ich wieder dorthin zurückgehen, und wer von euch will, der kann mit mir kommen."
Ein Raunen ging durch die Reihen. Siren kam hinter dem Tisch vor und sah sich um in den Gesichtern. "Nun? Was ist?"
Niemand sagte etwas. Ein paar Männer wandten sich ab.
"Es scheint nicht so leicht zu sein, ein neues Zeitalter einzuläuten, wie?" ließ sich Gurot spöttisch vernehmen.
"Was war ich für ein Narr, noch einmal zurückzukehren!" rief Siren aus. "Ihr sagt, ich sei verrückt? Ich war es, daß ich mein Leben noch einmal aufs Spiel gesetzt habe!"
"Ich komme mit", sagte Bran leise.
"Siren!" rief jemand aus dem Hintergrund des Raums. "Du hast so schönes Lockenhaar – du solltest zu den Frauen hinübergehen, die kannst du sicher leichter verführen!" Alle lachten.
"Wenigstens einer", sagte Siren zu Bran. "Dann hat es sich doch gelohnt."
Am nächsten Morgen bei Sonnenaufgang, als alle anderen noch schliefen, verließen Siren, Bran und drei Frauen das Dorf und kehrten nie mehr wieder.
© 1999