Bran blieb liegen, bis er glauben konnte, daß es vorbei war. Als die Schreie sich verloren, hob er den Kopf aus dem kalten Schlamm, aber er konnte sich nur auf den Rücken drehen, so sehr zitterte er noch. Seine Hand bekam den Dornenstock zu greifen, und ein wütendes, hilfloses Schluchzen drang wie von selbst aus ihm heraus. Nutzlos. Es gab keine Waffen, keinen Schutz.
Wenn Opferzeit war, mußte Blut fließen, so war es. Wenn sie nachts keine Beute fanden, kamen sie bei Tage. Wenn sie auf den Feldern und in den Gassen niemanden kriegen konnten, drangen sie in die Häuser ein. Wenn die Vampire hungrig waren, dann mußte ein Mensch sterben.
Und heute nacht war die Reihe an Livet gewesen. Bran stemmte sich elend hoch. Gellende Schreie hallten von den Bergen wieder, weit entfernt. Jetzt waren sie im Blutrausch. Er mußte machen, daß er das Dorf erreichte. Heute nacht würden sie jeden nehmen, den sie kriegen konnten, ob sie noch hungrig waren oder nicht.
Aber er war genug gerannt heute nacht. Seine Schenkel brannten vor Erschöpfung, und der kalte Wind, der den Schnee von den Bergen herabtrug, fror ihm das Leben aus dem Leib.
Einfach vornüberkippen, liegenbleiben, selbst zur Beute werden. Es endlich überstanden haben. Nur die Füße waren nicht einverstanden, trugen ihn weiter, stapften durch aufgeweichte Gassen, fanden den Weg zum Versammlungshaus, und dort zogen ihn Hände zur Tür herein, in dampfende Wärme.
"Bran… er ist zurück… er lebt…" Gemurmel um ihn herum. Man setzte ihn an den Ofen, jemand reichte ihm eine Schale mit Brühe. Es war eine sehr dünne Brühe. Dieses Jahr reichte es kaum zum Leben. Die Vampire hatten die Felder verwüstet wie selten zuvor.
"Geht es dir besser?"
Er nickte, wärmte die Hände an der Schale. Aber die Wahrheit war, daß er nicht wußte, ob es ihm gut ging oder nicht. "Livet?"
"Sie haben ihn geholt."
Das Raunen trug Livets Namen weiter. Aus dem Raum der Frauen drang gleich drauf Wehklagen. Aber gleichzeitig war so etwas wie Aufatmen zu spüren – Hoffnung, daß die Vampire nun wieder einmal zufrieden sein würden für eine Weile.
"Dies ist ein Abend der Wunder", rief plötzlich jemand. "Von dreien, die wir tot glaubten, sind zwei unversehrt zurückgekehrt!"
"Ehre sei dem Herrn des Tages und der Nacht", murmelte ein Chor dumpfer Männerstimmen.
Bran sah den Mann neben sich fragend an.
"Siren ist zurückgekommen", erklärte der.
"Siren? Aber wie kann das..?" Bran erinnerte sich, daß der junge Bursche vor zwei Monden verschwunden war. Natürlich hatte ihn jeder für tot gehalten. Es war unglaublich, daß er diese lange Zeit ohne den Schutz des Dorfes überstanden haben sollte.
"Dort hinten sitzt er. Und erzählt Dinge, die nicht mal das dümmste Kind glauben würde."
"Ja? Was denn?"
"Kannst ihm ja zuhören. Er hört gar nicht auf zu reden."
Bran erhob sich mühsam und mischte sich unter die Männer, die einen Tisch umringten, an dem wahrhaftig Siren saß, gesund und lebendig, und aufgeregt anredete gegen die Wand aus zweifelnden oder spöttisch grinsenden Gesichtern ringsum.
"Stellt euch Wiesen vor, grün und saftig, soweit der Blick geht. Stellt euch Felder vor, jedes so groß wie unser ganzes Dorf, die herrlich blühen. Stellt euch Bäume vor, Hunderte davon, die voller süßer Früchte hängen…"
"Märchenland!" warf jemand ein.
"Die Menschen dort", rief ihm Siren entgegen, "wissen nicht einmal, was Vampire sind. Sie versammeln sich nachts unter freiem Himmel und feiern, zünden große Feuer an, um die herum sie fröhlich tanzen, lachen, singen, essen und trinken. Sie haben keine Angst vor der Nacht – sie lieben sie geradezu!"
"Geschichten erzählen konntest du schon immer, Siren", meinte einer und erntete zustimmendes Gelächter.
"Ich habe das alles gesehen!" erregte sich Siren. "Ich habe das alles gesehen, mit diesen Augen! Mit diesen Händen habe ich reife Früchte von Bäumen gepflückt, ganze Körbe voll. Mit diesen Beinen bin ich durch Felder gegangen, deren Korn mir bis zur Hüfte reichte -"
"Wo ist dieses Land?" fragte Bran.
Siren sah ihn an. "Ich sagte es doch schon – jenseits der Berge. Ich habe einen Weg über die Berge gefunden. Und ich sage euch, auf der anderen Seite liegt ein Land, das unvorstellbar schön und reich ist; ein Land, in dem es keine Vampire gibt!" Er hob hilflos die Hände. "Warum versteht mich denn keiner? Sehe ich so aus, als sei ich verrückt geworden? Ich hätte dort bleiben können. Ich hätte nicht zurückzukommen brauchen, um euch davon zu berichten. Ich hätte nicht riskieren müssen, daß die Vampire mich doch noch erwischen. Ich hätte einfach bleiben können. Ihr glaubt mir nicht, schön – aber ihr braucht mir nicht zu glauben! Ihr könnt einfach mit mir kommen, und ich zeige euch den Weg, den ich gegangen bin. Wir brauchen nicht hierzubleiben, versteht ihr? Wir brauchen uns nicht sinnlos den Vampiren zu opfern. Wir können einfach fortgehen in ein besseres Land."
"Vielleicht", warf eine bedächtige, Ehrfurcht gebietende Stimme ein, "hat das alles seinen guten Grund." Der Spott und das Gelächter erstarben. Die Männer wichen respektvoll beiseite, um den alten Gurot durchzulassen. Man machte ihm Platz, damit er sich an den Tisch setzen konnte, Siren gegenüber.
Gespannte Stille herrschte plötzlich. Gurot legte die Heilige Schrift vor sich hin, rieb sich die Reste der Opferkräuter von den Fingerspitzen und musterte den jungen Siren aufmerksam, der unter diesen Blicken kleiner zu werden schien. Langsam sagte er: "Ich möchte dir zunächst sagen, Siren, daß ich mich freue, daß du noch am Leben bist, und daß ich dich beglückwünsche."
"Danke", sagte Siren tonlos.
"Man hat mir von deinen Erzählungen berichtet, während ich das Huldigungsopfer darbrachte", fuhr der Alte bedächtig fort, "und ich denke, ehe du dich immer wieder und wieder wiederholst, sollten wir alles einmal gründlich bedenken und von allen Seiten betrachten."
Siren sagte nichts.
"Du bist der Überzeugung, daß du uns etwas von enormer Wichtigkeit mitzuteilen hast; hat man mir das richtig überbracht?"
"Ja." "Und du wunderst dich, daß deine Schilderungen hier auf, sagen wir einmal, Skepsis stoßen. Sehe ich das recht?" "Genau."
Gurot faltete die Hände in einer Geste der Nachdenklichkeit. "Nun, Siren, ich möchte, daß du dich einmal in die Lage dieser Leute hier versetzt. Du bist noch sehr jung, gerade mannbar geworden, in dir brennt noch die Hitze der Jugend und ihre Phantasie. Überdies weißt du selbst, daß du nicht gerade das warst, was man ein wohlerzogenes Kind nennt; du erinnerst dich sicher selber am besten an manche Streiche, Lügen und andere Vorfälle, die man beim besten Willen nicht als Zeichen übermäßiger Zuverlässigkeit verstehen kann. Versteh mich recht, ich verurteile damit weder dich noch das, was du sagst, ich möchte im Gegenteil alles gründlich bedenken, aber ich möchte zunächst, daß du mir sagst, ob ich gerade etwas Unwahres über dich erzählt habe."
"Nein", gestand Siren, "aber…"
Gurot hob eine Hand, um ihn zu unterbrechen. "Ferner möchte ich wissen, ob du dir vorstellen kannst, daß einige der hier Anwesenden einfach aufgrund deiner Jugend und der Erinnerungen an deine Kinderstreiche voreingenommen gegen dich sind. Kannst du dir das vorstellen?"