Direkt am Haupteingang der riesigen Kantine für warmblütige Sauerstoffatmer hing eine kleine Widmungstafel. Das kelgianische, ianische, melfanische, nidianische, etlanische, orligianische, dwerlanische, tralthanische und terrestrische Arzt- und Wartungspersonal hatte allerdings nur selten Zeit, einen Blick auf die eingravierten Namen zu werfen — man war viel zu sehr damit beschäftigt, Fachgespräche zu führen, den neuesten Klatsch über andere Spezies auszutauschen und an den Tischen mit Utensilien essen zu müssen, die für die Bedürfnisse vollkommen andersartiger Lebensformen entwickelt worden waren. Schließlich handelte es sich bei der Kantine um einen äußerst belebten und häufig überfüllten Raum, und man nahm eben dort Platz, wo noch gerade etwas frei war. Aber genau das hatten Grawlya-Ki und MacEwan ja immer gewollt.
DER ÜBERLEBENDE
SURVIVOR
Schon seit mehr als einer Stunde galt Conways Aufmerksamkeit gleichzeitig der interstellaren Leere jenseits der Direktsichtluke und dem Bildschirm, der mit optischen Sensoren verbunden war und auf dem die nähere Umgebung des Weltraums alles andere als leer dargestellt wurde. Mit jeder verstreichenden Minute fühlte sich Conway niedergeschlagener. Die Offiziere, die auf dem Kommandodeck der Rhabwar um ihn herumstanden, strahlten eine nervöse, aber unhörbare Unruhe aus, denn sie wußten, daß der ranghöchste medizinische Offizier an Bord das Kommando hatte, wenn sich ihr Schiff am Schauplatz einer Katastrophe befand.
„Nur ein Überlebender“, sagte Conway ausdruckslos.
„Bei unseren bisherigen Einsätzen hatten wir eben Glück, Doktor“, gab Fletcher vom Platz des Captains aus zu bedenken. „Meistens entdeckt ein Ambulanzschiff überhaupt keine Überlebenden mehr. Stellen Sie sich doch nur mal vor, was hier passiert sein muß.“
Conway gab darauf keine Antwort, schließlich dachte er schon seit einer Stunde an kaum etwas anderes.
Bei einem Interstellarschiff unbekannter Herkunft und der dreifachen Masse des Ambulanzschiffs war eine folgenschwere Funktionsstörung aufgetreten, durch die es in fein zerteilte und weit verstreute Wrackstücke zerrissen worden war. Die Analyse der Temperatur und der auseinanderstrebenden Bewegung der einzelnen Trümmerteile ergab, daß die Wrackstücke vor knapp sieben Stunden, als das Alarmsignal automatisch ausgelöst worden war, auf keinen Fall gemeinsam im Zentrum einer Nuklearexplosion gewesen sein konnten, weil sie dafür inzwischen viel zu kalt waren. Das Schiff mußte also ganz offensichtlich einen seiner Hyperraumantriebsgeneratoren verloren haben, und augenscheinlich war auch die Schiffskonstruktion nicht weit genug entwickelt gewesen, so daß
die Insassen bei diesem Unfall bis auf eine Ausnahme keine Überlebenschance gehabt hatten.
Wie Conway wußte, wurden auf einem Föderationsschiff die synchronisierten Hyperraumantriebsgeneratoren automatisch abgeschaltet, sobald einer von ihnen plötzlich ausfiel, und das betreffende Schiff tauchte dann wie in Abrahams Schoß im Normalraum irgendwo zwischen den Sternen wieder auf. Da es mit dem Normalantrieb zumeist aber nicht mehr bis nach Hause fliegen konnte, trieb es dort hilflos umher, bis die Besatzung entweder den defekten Generator repariert hatte oder Hilfe kam. Früher hatten diese Sicherheitsabschaltungen allerdings hin und wieder versagt oder waren erst zu spät ausgelöst worden. In solch einem Fall war dann ein Teil des Schiffs für den Bruchteil einer Sekunde mit Hyperraumgeschwindigkeit weitergeflogen, während der Rest mit einem Schlag auf weit unter Lichtgeschwindigkeit abgebremst worden war. Die daraus resultierenden Folgen für diese ersten Hyperraumschiffe waren, gelinde gesagt, verheerend gewesen.
„Die Spezies des Überlebenden hat mit Hyperraumareisen anscheinend noch relativ wenig Erfahrung“, folgerte Conway, „sonst wäre das Schiff wohl nach dem Prinzip der Modulbauweise konstruiert worden. Wie wir aus langer Erfahrung wissen, handelt es sich dabei um die einzige Konstruktionsform, die wenigstens einem Teil der Schiffsbesatzung das Überleben sichert, wenn eine plötzliche Synchronisationsstörung der Hyperraumgeneratoren das Schiff auseinanderreißt. Ich verstehe allerdings nicht, warum der Teil mit dem Überlebenden nicht genauso wie der Rest in Stücke zerrissen worden ist.“
Der Captain mußte sichtlich seine Ungeduld unterdrücken, als er antwortete: „Ach Doktor, Sie waren doch viel zu sehr damit beschäftigt, den Überlebenden vor dem völligen Entweichen der Luft aus der Kabine zu bewahren, um ihm neben all den anderen schon vorhandenen Problemen wenigstens einen Druckabfall zu ersparen, als daß Sie sich um die Schiffskonstruktion Gedanken hätten machen können. Bei diesem kabinenähnlichen Container handelte es sich um eine separate Einheit mit unbekannter Verwendung. Er war außenbords am Hauptrumpf befestigt und mit dem Schiff durch eine kurze Einstiegsröhre und eine Luftschleuse verbunden. Die Kabine wurde einfach komplett abgerissen. Das Wesen hatte ein Mordsglück.“ Er deutete auf die Displays der weitreichenden Sensoren und fuhr fort: „Aber jetzt wissen wir wenigstens, daß es keine weiteren Überlebenden gibt, weil die übriggebliebenen Wrackteile dazu viel zu klein sind. Offen gesagt, Doktor, vergeuden wir hier nur unsere Zeit.“
„Der Meinung bin ich auch“, stimmte ihm Conway geistesabwesend zu.
„Gut“, sagte Fletcher lebhaft. „Maschinenraum, bereiten Sie sich auf einen Sprung in fünf..“
„Einen Augenblick noch, Captain“, unterbrach ihn Conway leise. „Ich war noch nicht fertig. Ich will hier draußen ein Aufklärungsschiff haben, wenn möglich sogar mehr als eins, um die Wrackteile nach persönlichen Gegenständen, Photographien, Bildern oder Skulpturen abzusuchen, eben nach allem, was zur Rekonstruktion der Kultur und Umweltbedingungen des Überlebenden beitragen könnte. Bitten Sie das Föderationsarchiv um sämtliche Informationen über eine intelligente Lebensform der physiologischen Klassifikation EGCL. Die Kontaktspezialisten werden diese Informationen so schnell wie möglich haben wollen, da es sich hierbei um eine für uns völlig unbekannte Spezies handelt. Und sollte unser Patient am Leben bleiben, wird das Orbit Hospital diese Informationen sozusagen schon vorgestern benötigen.
Senden Sie den Funkspruch mit dem Dringlichkeitscode für medizinischen Erstkontakt, und nehmen Sie dann sofort Kurs auf die Heimat. Ich bin auf dem Unfalldeck.“
Als Conway in den schwerelosen Hauptverbindungsschacht stieg und sich mittschiffs zum Unfalldeck zog, bereitete der Funkoffizier der Rhabwar, Haslam, bereits die Übermittlung der Nachricht vor. Conway unterbrach den Weg kurz durch einen Abstecher in seine Kabine, wo er den schweren Raumanzug ablegte, den er seit der Bergung getragen hatte. Er fühlte sich, als könnte er jeden einzelnen Muskel und Knochen im Körper spüren — die Bergung des Überlebenden und dessen Transport zur Rhabwar hatten viel Kraft gekostet. Die darauffolgende dreistündige Notoperation und eine weitere Stunde konzentrierten Stillsitzens im Kontrollraum hatten ihm den Rest gegeben. Kein Wunder also, daß sein Körper steif wie ein Brett war.
Versuch bloß, an irgendwas anderes zu denken, ermahnte sich Conway selbst. Zur Entspannung der Muskeln machte er kurz ein paar Körperübungen, doch der dumpfe, nicht zu ortende Schmerz blieb. Verärgert fragte er sich, ob er allmählich zum Hypochonder wurde.