Außerdem sollten wir uns bezüglich des Patienten nicht zu emotional verhalten“, fügte er hinzu. „Erstens ist das ziemlich unprofessionell und zweitens sieht euch das überhaupt nicht ähnlich.“
Naydrad, deren Fell sich verärgert sträubte, gab einen Laut von sich, den Conways Translator erst gar nicht registrierte, und Murchison entgegnete: „Du hast natürlich recht. Wir haben es schon mit viel schlimmeren Fällen zu tun gehabt. Ich weiß auch nicht, warum ich mir ausgerechnet bei diesem so viele Gedanken mache. Vielleicht werde ich einfach alt.“
„Der Beginn von Senilität könnte zwar durchaus eine Erklärung für solch ein untypisches Verhalten sein, aber für mich gilt das nicht“, teilte die Kelgianerin in ihrer direkten Art mit.
Murchisons Gesicht lief rot an. „Die Oberschwester darf solche Sachen zwar sagen, aber wehe dir, wenn du dich ihrer Ansicht anschließt, mein lieber Doktor!“ sagte sie böse.
Conway mußte plötzlich lachen und erwiderte: „Immer mit der Ruhe, meine Liebe. Nicht einmal im Traum würde ich daran denken, einem solch offensichtlichen Fehlschluß zuzustimmen. So, wenn ihr glaubt, alles zu haben, was Thorny für unseren Freund hier braucht, solltet ihr euch erst mal ein bißchen Ruhe gönnen. Wir werden in etwa sechs Stunden wieder aus dem Hyperraum auftauchen. Falls ihr nicht schlafen könnt, versucht bitte, euch nicht allzu viele Sorgen um den Verwundeten zu machen, sonst quält ihr nur Prilicla.“
Murchison nickte und verließ hinter Naydrad das Unfalldeck. Conway, der sich noch immer eher wie ein leicht erkrankter Patient fühlte als wie ein diensthabender Arzt, schaltete das akustische Warnsystem an, das sofort jede Änderung des gesundheitlichen Zustands des EGCL signalisieren würde. Dann legte er sich auf eine in der Nähe stehende Bahre und schloß die Augen.
Da weder die Klassifikation der Terrestrier als DBDG noch die der Kelgianer als DBLF für die Fähigkeit bekannt war, völlige Kontrolle über den eigenen Verstand ausüben zu können, wurde bald offensichtlich, daß sich Murchison und Naydrad wider besseres Wissen um den Patienten Sorgen gemacht hatten und ihre emotionalen Ausstrahlungen für Prilicla entsprechend unangenehm gewesen waren. Mit noch immer geschlossenen Augen lauschte Conway den leicht pochenden und saugenden Geräuschen, die sich ihm an der Decke entlang langsam näherten und schließlich über seinem Kopf verstummten. Darauf folgte ein Schwall tiefer Triller und melodischer Schnalzlaute, die vom Translator als „Entschuldigen Sie, mein Freund, haben Sie etwa geschlafen?“ übersetzt wurden.
„Sie wissen doch genau, daß ich nicht geschlafen hab“, antwortete Conway und öffnete die Augen, um den über ihn an der Decke hängenden Prilicla anzublicken, der unkontrolliert zitterte, da er nun der emotionalen Ausstrahlung Conways und des Patienten ausgesetzt war.
Dr. Prilicla gehörte zur physiologischen Klassifikation GLNO, einer sechsbeinigen, insektenartigen Lebensform mit einem Ektoskelett und zwei schillernden, nicht ganz verkümmerten Flügelpaaren. Diese Wesen besaßen hochentwickelte empathische Fähigkeiten. Nur auf seinem Heimatplaneten Cinruss, auf dem die Atmosphäre sehr dicht war und weniger als ein Achtel der Erdanziehungskraft herrschte, hatte eine Insektenspezies zu solcher Größe heranwachsen und mit der Zeit Intelligenz und eine fortschrittlicheZivilisation entwickeln können.
Doch sowohl im Orbit Hospital als auch auf der Rhabwar befand sich Prilicla den größten Teil seines Arbeitstags in echter Todesgefahr. Außerhalb seiner Unterkunft mußte er überall Schwerkraftneutralisatoren, sogenannte G-Gürtel, tragen, weil er unter dem Druck der Anziehungskraft, den die Mehrheit seiner Kollegen für normal hielt, regelrecht zermalmt worden wäre. Und wenn sich Prilicla mit irgend jemandem unterhielt, begab er sich sofort außer Reichweite seines Gegenübers, denn schon durch eine einzige gedankenlose Bewegung eines Arms oder Tentakels seines Gesprächspartners hätte ihm ein Bein abgerissen oder gar sein ganzer zerbrechlicher Körper zerstört werden können.
Natürlich wollte niemand Prilicla auf irgendeine Weise mutwillig verletzen, denn dazu war er bei allen viel zu beliebt. Durch seine empathischen Fähigkeiten war der kleine Cinrussker dazu gezwungen, zu allen freundlich zu sein und stets die passenden Worte zu finden, um die emotionale Ausstrahlung der Wesen in seiner näheren Umgebung für sich selbst so angenehm wie möglich zu gestalten. Ganz anders verhielt es sich, wenn ihn seine dienstlichen Pflichten dazu zwangen, sich Schmerzempfindungen und heftigen Emotionen eines Patienten oder den ungewollt unangenehmen Gefühlen seiner Kollegen auszusetzen.
„Sie sollten doch eigentlich schlafen, Prilicla“, sagte Conway besorgt. „Oder sind für Sie die von Murchison und Naydrad ausgestrahlten Emotionen zu heftig?“
„Nein, mein Freund“, antwortete der Empath schüchtern. „Die emotionale Ausstrahlung der beiden stört mich nicht mehr als die der restlichen Besatzung. Ich bin gekommen, weil ich mit Ihnen sprechen muß.“
„Gut!“ entgegnete Conway. „Sie hatten ja einige brauchbare Ideen für die Behandlung unseres.“
„Ich möchte mit Ihnen über mich selbst sprechen“, sagte Prilicla, wobei er eine für ihn grobe Unhöflichkeit beging, indem er seinen Gesprächspartner mitten im Satz unterbrach, ohne sich dafür vorher entschuldigt zu haben. Wegen Conways starker Gefühlsreaktion zitterten sein Körper und die feingliedrigen Beine einen Moment lang wie Espenlaub, dann fügte er hinzu: „Beherrschen Sie doch bitte Ihre Emotionen, mein Freund.“
Seit Conways Beförderung zum Chefarzt war Prilicla nicht nur sein Kollege gewesen, der ihm bei praktisch jedem wichtigen Fall als Assistent unschätzbar wertvolle Dienste geleistet hatte, er war ihm auch zum Freund geworden. Deshalb fiel es ihm jetzt schwer, sich gegenüber dem kleinen Cinrussker rational zu verhalten. Seine plötzliche Besorgnis und uneingestandene Angst vor dem möglichen Verlust eines engen Freunds würden diesem Freund allerdings kein Stück weiterhelfen, sondern ihm nur noch größere Beschwerden bereiten. Also bemühte sich Conway hartnäckig, in Prilicla lediglich einen Patienten zu sehen, nichts weiter als einen Patienten, und schließlich legte sich das Zittern des Empathen allmählich.
„Was haben wir denn für ein Problem?“ fragte Conway in der althergebrachten Weise seiner ärztlichen Zunft.
„Das weiß ich nicht“, antwortete der Cinrussker. „Mit so etwas hab ich bisher noch keinerlei Erfahrung gemacht, und es gibt auch nirgends Beispiele dafür, daß sich jemals irgendein Mitglied meiner Spezies in so einer Verfassung befünden hat. Ich bin ziemlich verwirrt und hab Angst, mein Freund.“
„Irgendwelche Symptome?“ fragte Conway. „Empathische Überempfindlichkeit“, erwiderte Prilicla. „Die emotionale Ausstrahlung von Ihnen, dem übrigen medizinischen Team und der Besatzung ist ungewöhnlich stark. Ich kann von hier aus ganz deutlich die Emotionen von Lieutenant Chen und dem Rest der Besatzung im Maschinenraum spüren, die trotz der Entfernung kaum oder sogar überhaupt nicht abgeschwächt sind. Wegen des relativ erfolglosen Rettungsversuchs waren zwar gedämpfte Gefühle der Trauer und Enttäuschung zu erwarten, aber jetzt nehme ich die Empfindungen der Besatzung mit einer schockierenden Intensität wahr. Wir haben es zwar schon früher mit solchen Tragödien zu tun gehabt, mein Freund, aber eine solch heftige emotionale Reaktion auf die körperliche Verfassung eines uns völlig fremden Wesens ist einfach. einfach.“