Da durch das Cinrusskerband und die große Besorgnis um Prilicla sein analytisches Urteilsvermögen stark getrübt war, konnte Conway nur wenig mehr tun, _als aufmunternde Worte von sich zu geben, während Gilvesh ihm einige Patienten vorführte, die an verschiedensten illensanischen Krankheiten litten, unter anderem an einem schmerzenden Darmtrakt und einer optisch dramatischen und zweifelsohne unangenehmen Pilzinfektion, die sämtliche acht spatelförmigen Gliedmaßen befallen hatte.
Doch obwohl sämtliche Patienten ernsthaft erkrankt waren, befand sich keiner von ihnen in einem kritischen Zustand, und die erhöhten Dosen schmerzstillender Medikamente, die Gilvesh ihnen gegen sein besseres Wissen verabreicht hatte, schienen den gewünschten Erfolg zu erzielen, wenn auch nur langsam. Conway fand eine Entschuldigung, um diese unglaublich betriebsame Station so schnell wie möglich verlassen zu können, und machte sich dann auf den Weg zu den sehr viel ruhigeren MSVK- und LSVO-Ebenen.
Dazu mußte er erneut die Ebene einhundertdreiundsechzig durchqueren und nutzte diese Gelegenheit, um sich über den Zustand des EGCL zu informieren. Murchison gähnte ihm ins Gesicht und berichtete, daß die Operation gut verlaufe und Prilicla mit der emotionalen Ausstrahlung des Patienten zufrieden sei. Seinen empathischen Freund suchte Conway nicht auf.
Allerdings mußte er feststellen, daß auch die Ebenen mit geringer Schwerkraft einen dieser Tage hatten, und er wurde prompt in weitere Konsultationen verwickelt. Solche an ihn herangetragenen Bitten konnte er auch nur schlecht ausschlagen, denn er war nun einmal Conway, der terrestrische Chefarzt, der im ganzen Hospital für seine manchmal zwar unkonventionellen, letztendlich aber wirkungsvollen Diagnose- und Behandlungsmethoden bekannt war. Da sein cinrusskischer Gehirnpartner vom Temperament und Körperbau her mit den zerbrechlichen, vogelartigen und gegenüber größeren Lebensformen äußerst zurückhaltenden LSVOs und MSVKs von Euril beziehungsweise Nallajim mehr Ähnlichkeit hatte als mit den stacheligen Illensanern, konnte er hier wenigstens manchen nützlichen, wenn auch konventionellen Rat geben.
Aber für das Problem, das er am dringendsten beseitigen wollte, konnte er weder eine konventionelle noch eine unkonventionelle Lösung finden.
Und dieses Problem hieß Prilicla.
Conway überlegte, ob er sich in seine Unterkunft begeben sollte, wo er sich entspannen und in aller Ruhe nachdenken könnte. Aber bis zu seinem Quartier am anderen Ende des Hospitals lag ein gut einstündiger Weg vor ihm. Außerdem wollte er in der Nähe bleiben, falls sich Priliclas Zustand, der sowieso schon fast kritisch war, plötzlich noch mehr verschlechtern sollte. Also ließ er sich lieber weiterhin von nallajimischen Patienten ihre Krankheitssymptome beschreiben. Dabei empfand er eine seltsame Traurigkeit, weil die cinrusskische Hälfte seines Gehirns zwar einerseits wußte, daß die Kranken litten, fühlten und in den verschiedensten Schattierungen Emotionen ausstrahlten, das geistige Rüstzeug des Menschen aber andererseits nicht in der Lage war, diese emotionale Ausstrahlung zu empfangen. Es war, als ob zwischen ihm und den Patienten eine Glasplatte stehen würde, durch die man nur sehen und hören konnte.
Aber drang nicht dennoch etwas mehr hindurch? Er hatte durchaus ein wenig von den Schmerzen der illensanischen Patienten gespürt, wie er nun auch bis zu einem gewissen Grad die Leiden der Eurilen und Nallajims um sich herum nachempfand. Oder verleitete ihn lediglich das GLNO-Band zu glauben, er sei ein Empath?
Eine Glasplatte, dachte er plötzlich. In seinem Hinterkopf kam ihm langsam eine Idee. Er bemühte sich, sie ans Licht zu zerren, sie Gestalt annehmen zu lassen. Glas. Irgend etwas mit Glas oder den Eigenschaften von Glas?
„Entschuldigen Sie mich bitte, Kytili“, sagte er zum nallajimischen Arzt, der sich gerade laut den Kopf über einen vollkommen atypischen Fall zerbrach, der eigentlich ein sehr leicht zu behandelndes und schmerzloses Leiden haben sollte. „Ich muß ganz dringend zu O’Mara.“
Da der Chefpsychologe wegen einiger Probleme auf die Ebene der Chloratmer gerufen worden war, die Conway erst vor kurzem verlassen hatte, löschte Carrington das GLNO-Band aus seinem Kopf. Als O’Maras Chefassistent war Carrington ein hochqualifizierter Psychologe. Er musterte einen Moment lang Conways Gesichtsausdruck und fragte ihn, ob er ihm helfen könne.
Conway schüttelte den Kopf und zwang sich zu einem Lächeln. „Ich wollte den Major nur etwas fragen. Er hätte wahrscheinlich sowieso nein gesagt. Kann ich mal den Kommunikator benutzen?“
Wenige Sekunden später flammte auf dem Bildschirm das Gesicht von Captain Fletcher auf, der sich rasch mit den Worten meldete: „Rhabwar, Kommandodeck.“
„Captain“, begann Conway, „ich möchte Sie um einen Gefallen bitten. Falls Sie damit einverstanden sind, mir diesen Gefallen zu tun, werden Sie selbstverständlich für keine der Auswirkungen verantwortlich gemacht werden können, weil es sich um eine rein medizinische Angelegenheit handelt und Sie auf meine Anordnung hin tätig werden.
Es gibt nämlich eine Möglichkeit, wie ich Prilicla vielleicht helfen könnte“, fuhr Conway fort und beschrieb dem Captain seinen Plan. Als er fertig war, machte Fletcher ein ernstes Gesicht.
„Ich bin mir über Priliclas Zustand durchaus im klaren, Doktor“, erwiderte der Captain. „Naydrad ist so oft zwischen Schiff und Krankenzimmer hin- und hergependelt, daß sich schon allmählich der Bordtunnel abnutzt. Und bei jeder Rückkehr berichtet sie uns über jeden Fortschritt, den der Empath gemacht oder vielmehr nicht gemacht hat. Nebenbei bemerkt, gibt es keinen Grund, warum wir uns über unsere jeweiligen Verantwortlichkeitsbereiche streiten sollten. Offensichtlich möchten Sie das Schiff für einen unerlaubten Einsatz benutzen und halten die Einzelheiten geheim, damit die Vorwürfe, die durch die Ergebnisse zukünftiger Untersuchungen an mir hängen bleiben könnten, möglichst gering bleiben. Sie kürzen die Sache zwar wieder einmal ab, Doktor, aber in diesem Fall hab ich dafür vollstes Verständnis und bin mit sämtlichen Anweisungen, die sie mir geben wollen, einverstanden.“
Fletcher hielt inne, und zum erstenmal, seit Conway den Mann kannte, wurde der kalte, unbewegte, fast verächtliche Gesichtsausdruck des Captains weicher, und selbst seine Stimme verlor ihren sonst geradezu ärgerlich pedantischen Ton. „Ich nehme an, Sie befehlen mir, mit der Rhabwar nach Cinruss zu fliegen“, fuhr er fort, „damit unser kleiner Freund wenigstens im Kreis seiner Artgenossen sterben kann.“
Bevor Conway antworten konnte, hatte ihn Fletcher bereits mit Naydrad auf dem Unfalldeck verbunden.
Ein halbe Stunde später hoben die kelgianische Oberschwester und Conway den mittlerweile fast völlig bewußtlosen und inzwischen nur noch leicht zitternden Prilicla aus dem Stützgeschirr und legten ihn auf eine Elektrobahre. Im Korridor, der zu Schleuse neun führte, stellte ihnen keiner der medizinischen Mitarbeiter wegen ihrer Aktion eine Frage, und wenn doch irgend jemand so aussah, klopfte Conway nervös auf das Gehäuse seines Translators und tat so, als ob dieser nicht funktionierte. Aber als sie den Eingang zum Zimmer des EGCL passierten, kam gerade Murchison heraus und stellte sich sofort vor die Bahre.
„Wo willst du Prilicla hinbringen?“ fragte sie, wobei sie äußerst müde und auf für sie untypische Weise zornig klang, so daß der Empath schwach zitterte.