Zuerst hatte sich Conway nicht vorstellen können, wie die Spezies des EGCL zur Herrschaft über ihren Planeten aufgestiegen war und sich den Weg bis an die Spitze des Evolutionsbaums hatte erkämpfen können. Ihr Körper besaß keine Angriffswaffen, und mit dem schlangenähnlichen, der Fortbewegung dienenden Muskelschurz erreichten sie nicht genügend Geschwindigkeit, um natürlichen Feinden entkommen zu können. Zwar stellte das riesige Schneckengehäuse so etwas wie einen Schutz dar, denn er schirmte lebenswichtige innere Organe ab, aber dafür erhob sich dieser knöcherne Panzer bis hoch über den Körper, machte ihn damit oberlastig und gleichzeitig zur leichten Beute für jedes räuberische Lebewesen, das ihn nur umzukippen brauchte, um an die weiche Unterseite heranzukommen. Außerdem waren die Greiforgane der EGCLs zwar biegsam und geschickt, aber zur wirksamen Abschreckung viel zu kurz und nicht muskulös genug. Auf ihrem Heimatplaneten hätten die EGCLs eigentlich zu den Verlierern der Natur gehören müssen. Da sie aber das Gegenteil waren, mußte es dafür auch einen Grund geben.
Wie Conway weiter erklärte, sei er erst allmählich daraufgekommen, und zwar als er über die Stationen der Chloratmer und die Ebenen mit geringer Schwerkraft gegangen war. Auf jeder dieser Stationen lagen Patienten mit bekannten und richtig diagnostizierten Krankheiten, die aber atypische Symptome aufwiesen, zumindest wurde dies von den Betroffenen behauptet. Die Nachfrage nach schmerzstillenden Medikamenten stellte alles bisher Dagewesene in den Schatten. Körperliche Zustände, die eigentlich nur ein geringes Maß an Beschwerden hätten verursachen dürfen, schienen schwere Schmerzen hervorzurufen. Auch Conway selbst verspürte zu diesem Zeitpunkt ein wenig von dieser Schmerzen, schrieb das jedoch einer Kombination aus Einbildung und dem Effekt des Cinrusskerbands zu.
Seine Ansicht, daß es sich bei den Schwierigkeiten um ein psychosomatisches Problem handeln müsse, weil der allgemeine Zustand der Patienten zu weit verbreitet war, hatte er bereits für richtig und bewiesen gehalten, dann aber noch einmal darüber nachgedacht.
Bei der Rückkehr vom Unglücksort mit dem einzigen überlebenden EGCL waren sie alle wegen der Erfolglosigkeit ihres Einsatzes und auch, weil Prilicla Grund zur Sorge gab, verständlicherweise recht niedergeschlagen gewesen. Aber rückblickend hatten sie irgendwie falsch, ja geradezu stümperhaft reagiert. Die Besatzung der Rhabwar hatte dieVorfälle viel zu stark empfunden, hatte übermäßige Reaktionen gezeigt und auf jeweils ganz individuelle Art dieselbe Überempfindlichkeit entwickelt, von der Prilicla und später auch Mitarbeiter und Patienten auf den Ebenen der Illensaner und Nallajims befallen worden waren. Conway hatte es schließlich selbst gespürt: die dumpfen Bauchschmerzen, die Beschwerden in Händen und Fingern und die Übererregbarkeit in Situationen, die keinerlei Anlaß dazu gaben. Mit zunehmender Entfernung wurden diese Auswirkungen aber schwächer. Denn als er O’Maras Büro zur Speicherung und später zum Löschen des GLNO-Bands aufsuchte, fühlte er sich eigentlich ganz normal und unbekümmert — mit Ausnahme der ganz gewöhnlichen Besorgnis um einen aktuellen Fall, die verständlicherweise etwas größer war als sonst, da es sich bei dem Patienten um Prilicla handelte.
Den EGCL hatte er bei Thornnastor und Edanelt in allerbesten Händen gewähnt, und da er sich dessen ganz sicher gewesen war, hatte er sich auch keine weiteren Gedanken darum gemacht.
„Aber dann hab ich angefangen, über seine Verletzungen nachzudenken und auch darüber, wie ich mich zunächst auf dem Schiff und später auf den drei Ebenen ober und unterhalb des EGCL-Operationssaals gefühlt hatte. Als ich mich im Hospital befand und mir das GLNO-Band zusetzte, war ich zwar ein Empath ohne empathische Fähigkeiten, konnte aber trotzdem verschiedene Dinge wie Emotionen, Schmerzen und Beschwerden wahrnehmen, die nicht von mir selbst stammten. Ich hab geglaubt, ich würde wegen meiner Erschöpfung und dem Streß, unter dem ich zu der Zeit stand, die Schmerzen der Patienten mitempfinden. Aber dann ist mir eingefallen: Wenn man die Art der Beschwerden, an denen der EGCL litt, von den Symptomen der Ärzte und Patienten auf diesen sechs Ebenen subtrahierte und die Stärke der Beschwerden auf das gewöhnliche Maß reduzierte, wären das Verhalten und die Reaktionen der betroffenen Patienten und Mitarbeiter plötzlich wieder auf das normale Maß reduziert. Das wiederum deutete anscheinend auf.“
„Auf einen Empathen hin!“ unterbrach ihn O’Mara. „Wie Prilicla.“
„Nicht wie Prilicla“, berichtigte ihn Conway entschieden. „Obwohl es durchaus möglich ist, daß die noch nicht intelligenten Vorfahren dieser beiden Spezies ganz ähnliche empathische Fähigkeiten besessen haben.“
Doch die prähistorische Welt der EGCLs mußte ein sehr viel gefährlicherer Planet als Cinruss gewesen sein, erklärte Conway weiter, und ihnen hatte auf jeden Fall die Fähigkeit der Cinrussker gefehlt, sich vor Gefahren buchstäblich im Flug davonzumachen. In solch einer grausamen Umwelt boten empathische Fähigkeiten jedoch nur einen geringen Vorteil — nämlich den eines äußerst unangenehmen Frühwarnsystems, und aus genau diesem Grund war die Fähigkeit, Emotionen zu empfangen, später verlorengegangen. Inzwischen nahmen die EGCLs wahrscheinlich nicht einmal mehr die emotionale Ausstrahlung ihrer eigenen Artgenossen wahr.
Statt dessen hatten sie sich zu organischen Sendern, Reflektoren, Fokussierern und Verstärkern ihrer eigenen und der Emotionen von Lebewesen in ihrer näheren Umgebung entwickelt. Alles deutete darauf hin, daß diese Fähigkeit inzwischen eine Entwicklungsstufe erreicht hatte, auf der die EGCLs keine Kontrolle mehr über diese Vorgänge hatten.
„Stellen Sie sich nur einmal vor, was das für eine Verteidigungswaffe darstellt!“ erklärte Conway weiter, während man mittlerweile die Biosensoren und das Lebenserhaltungssystem für den EGCL zur Bahre gebracht hatte, die somit abfahrbereit war. „Wenn ein räuberisches Lebewesen einen EGCL anzugreifen versucht, werden die Wut und der Hunger auf sein Opfer zusammen mit der Furcht und dem Schmerz, der bei einer eventuellen Verletzung oder Verwundung seiner Jagdbeute auftritt, zunächst verstärkt und dann zurückgeworfen, schlagen dem Angreifer also, bildlich gesprochen, mitten ins Gesicht. Über den Grad der Verstärkung kann ich natürlich nur Spekulationen anstellen. Aber die Wirkung auf das räuberische Lebewesen dürfte, erst recht wenn sich noch weitere Raubtiere mit gleichermaßen verstärkten Emotionen in der Nähe aufhalten, gelinde gesagt, entmutigend und zudem sehr verwirrend sein. Sie könnte vielleicht sogar zur Folge haben, daß sich die Jäger gegenseitig angreifen.
Wir kennen ja bereits die Wirkung eines tief bewußtlosen EGCL auf die Patienten und Mitarbeiter, die sich drei Ebenen über und unter ihm befinden“, fuhr Conway grimmig fort. „Jetzt kommt dieser EGCL wieder zu Bewußtsein, und ich hab keine Ahnung, was gleich passiert oder wie weitreichend die Folgen sind. Wir müssen ihn unbedingt hier rausbringen, bevor die Patienten des Hospitals nicht nur ihre eigenen Schmerzen, sondern auch noch die des EGCL empfinden, und das in einem zwar unbekannten, auf jeden Fall aber verstärkten Ausmaß. Außerdem werden sie ihre Krankenpfleger in ständig wachsende Verwirrung und Panik stürzen, weil auch diese wiederum die reflektierten Schmerzen wahrnehmen.“
Er brach ab und versuchte, der eigenen wachsenden Panik Herr zu werden. Dann sagte er scharf: „Wir müssen den EGCL auf der Stelle aus dem Hospital schaffen, ohne weitere Verzögerungen und Diskussionen.“
Im Verlauf von Conways Erläuterungen hatte sich die anfängliche Zornesröte in O’Maras Gesicht immer mehr verflüchtigt, und es sah jetzt aschfahl und blutleer aus.