„Hier Haslam, Sir“, unterbrach ihn die Stimme des Kommunikationsoffiziers. „Soll ich Hilfe vom Korps anfordern?“
Der Captain antwortete nicht sofort, und Conway überlegte, daß Fletchers Theorie sehr gut erklärte, warum ein vor dem Absturz vollkommen unbeschädigtes Schiff eine Notsignalbake ausgesetzt und dann den Schauplatz wieder verlassen hatte, um die Landung auf einem Planeten zu riskieren. Vielleicht hatte sich irgend etwas losgerissen und war frei an Bord herumgelaufen. Etwas, das womöglich in einen Käfig gehörte, war ausgebrochen, irgend etwas äußerst Gefährliches.
Conway brachte schließlich die mit ihm durchgehende Phantasie mit einiger Mühe wieder unter Kontrolle und sagte: „Wir können uns trotzdem nicht absolut sicher sein, daß für all das ein Verbrecher verantwortlich ist. So etwas könnte auch irgendein nichtintelligentes Versuchstier angerichtet haben, das ausgebrochen ist, sich dabei verletzt hat und vielleicht durch die Schmerzen rasend geworden.“
„Tiere benutzen Zähne und Klauen, Doktor“, unterbrach ihn der Captain, „keine Messer.“
„Das hier ist eine vollkommen neue Spezies, über die wir überhaupt nichts wissen“, erwiderte Conway. „Uns ist nichts über die Zivilisation oder den Sittencodex dieser Wesen bekannt. Die kennen unsere besonderen Gesetze vielleicht gar nicht.“
„Die Unkenntnis von Gesetzen ist noch nie eine akzeptable Entschuldigung für das Begehen einer verbrecherischen Handlung an einer anderen intelligenten Kreatur gewesen“, entgegnete Fletcher ungeduldig. „Schließlich wird ja auch nicht umgekehrt dem unschuldigen Opfer eines Verbrechens der Schutz durch das Gesetz entzogen, nur weil es diese Gesetze nicht kennt.“
„Das ist natürlich richtig.“, pflichtete ihm Conway bei. „Aber ich bin mir eben nicht absolut sicher, ob überhaupt ein Verbrechen vorgefallen ist“, fuhr er unbeirrt fort. „Und bis ich mir darüber keine vollständige Klarheit verschafft hab, werden Sie keine Hilfe anfordern, Haslam. Aber überwachen Sie diese Gegend besonders scharf. Sobald sich irgend etwas außer den Überlebenden und uns selbst rührt, lassen Sie es mich sofort wissen. Dodds wird schon sehr bald mit der Fähre starten und.“
„Naydrad und die Verletzten mitnehmen“, beendete Murchison den Satz. Ruhig aber bestimmt fuhr sie fort: „Ihre Theorie erschreckt mich zwar zu Tode, Captain, aber sie ist trotzdem nicht mehr als eine Theorie, wie Sie ja selbst zugegeben haben. Tatsache ist, daß überall um uns herum zahlreiche Verletzte liegen, die, wenn auch ohne ihr Wissen, ab sofort Anspruch darauf haben, unter dem Schutz des Gesetzes der Föderation zu stehen. Und ob ihre Verletzungen nun vom Absturz herrühren oder ob sie von einem psychopathischen oder vorübergehend geistesgestörten Alien so übel zugerichtet worden sind, auf jeden Fall haben sie — übrigens nach genau diesem Gesetz — Anspruch auf jede erforderliche medizinische Hilfe.“
Der Captain blickte zur Landefähre hinüber, wo sich die Pathologin noch immer mit dem toten Exemplar beschäftigte, und sah dann wieder den Chefarzt an.
„Ich hab dem nichts hinzuzufügen, Captain“, sagte Conway.
Während Murchison die Untersuchung abschloß und Dodds und Naydrad zwei Verletzte in die Fähre brachten, blieb Fletcher die ganze Zeit über stumm. Er sagte auch nichts, als die Fähre schließlich startete oder als Conway eine Stelle unter einem großen Felsvorsprung auswählte, der den Verletzten, die noch auf den Abtransport warten mußten, vor der Sonne und dem aufgewirbelten Sand Schutz bot. Er half Murchison und Conway auch nicht beim Tragen der ETs zum Sammelpunkt, obwohl es sich dabei — ohne die Bahre — um anstrengende und ermüdende Arbeit handelte. Statt dessen ging er mit seiner Kamera zwischen den ETs herum, nahm jeden einzelnen auf, bevor und nachdem der Boden um das Opfer herum von Conway und Murchison zerscharrt worden war, und hielt sich dabei stets zwischen den Ärzten und dem Wrack auf.
Der Captain nahm seine eigenartige neue Rolle als Polizist und Beschützer hilfloser Opfer offenbar wirklich sehr ernst.
Die Kühlelemente in Conways Anzug schienen nicht besonders gut zu funktionieren, und er hätte nur zu gerne ein paar Minuten lang das Visier geöffnet, aber dann wäre ihm selbst im Schutz des Felsvorsprungs eine Menge Sand ins Gesicht geblasen worden.
„Laß uns mal eine kurze Pause machen“, schlug er vor, als er gerade mit Murchison einen weiteren Verletztem neben dessen Kameraden legte. „Es wird Zeit, daß wir uns mal wieder mit Prilicla unterhalten.“
„Das ist mir jederzeit ein Vergnügen, meine Freunde“, meldete sich der Empath prompt. „Obwohl ich mich natürlich außerhalb der Reichweite der bei Ihnen da unten ausgestrahlten Emotionen befinde, hab ich Mitleid mit Ihnen und hoffe, daß Ihre Gefühle der Besorgnis wegen des Verbrechers nicht allzu unangenehm sind.“
„Ehrlich gesagt, sind unsere Gefühle der Verblüffung zur Zeit weit intensiver“, erwiderte Conway trocken. „Aber vielleicht können Sie uns davon befreien, indem wir, bevor die ersten Verletzten bei ihnen eintreffen, noch einmal rasch die bisherigen Informationen durchgehen, so unvollständig diese auch sein mögen.“
Wie Conway ausführte, bestünden nur noch geringe Zweifel an der Genauigkeit der physiologischen Klassifikationen, doch mit Sicherheit handelte es sich um drei zwar unterschiedliche, aber verwandte Typen: DCLG, DCMH und DCOJ. Die Verletzungen konnten in zwei Grundkategorien unterteilt werden — nämlich einerseits in Schnitt- und Schürfwunden, die die Schiffsinsassen möglicherweise davongetragen hatten, als sie beim Absturz gegen scharfkantiges Metall geschleudert wurden, und andererseits in durch Gewalteinwirkung herbeigeführte Amputationen der Hauptgliedmaßen. Letztere waren bei den Verunglückten so häufig aufgetreten, daß man zu ihrer Erklärung eine andere Ursache als den Absturz heranziehen mußte.
Sämtliche Überlebenden wiesen eine Körpertemperatur auf, die deutlich über der Norm für warmblütige Sauerstoffatmer lag, was auf eine hohe Stoffwechselgeschwindigkeit und hyperaktive Lebensform hindeutete. Diese Folgerung wurde dadurch untermauert, daß bei allen Verletzten eine gleich tiefe Bewußtlosigkeit und dieselben Anzeichen von Austrocknung und Unterernährung vorherrschten. Wesen, die schnell Energie verbrauchen, schweben nur selten in einem bewußtlosen Zustand. Außerdem gab es Hinweise, daß diese Wesen eine ungewöhnlich stark ausgeprägte Fähigkeit besaßen, Blutungen von schweren Wunden zu stillen. An den Stichwunden war das Blut, vielleicht mit Hilfe des allgegenwärtigen Sands, zwar ziemlich, aber nicht unnatürlich schnell geronnen, wohingegen die Stümpfe an den Amputationsstellen nur sehr geringe Spuren von Blutungen aufwiesen.
„Die einzige Behandlung, der wir die Verletzten bis zur Ankunft im Orbit Hospital unterziehen können, ist die Behebung der Austrocknung und der Unterernährung“, fuhr Conway fort. „Murchison hat Ihnen ja bereits die für den Stoffwechsel geeigneten Nährstoffe mitgeteilt. Sie können natürlich auch die Stichwunden nähen, wenn Sie das für angebracht halten, Prilicla. Falls die erste Fuhre für Sie zu umfangreich ist, und das ist sie in meinen Augen auf jeden Fall, behalten Sie einfach Naydrad auf dem Schiff, und schicken Sie nur den Piloten mit der Bahre wieder zu uns herunter. Dann kann Murchison die Verletzten beim nächsten Flug begleiten und anschließend bei Ihnen auf der Rhabwar bleiben, während Naydrad zum Einladen der letzten Fuhre wieder mit runterkommt.“
Einen Moment lang herrschte Stille, dann antwortete der Empath: „Ich hab verstanden, mein Freund. Aber haben Sie sich auch überlegt, daß bei der Umsetzung Ihres Vorschlags drei Mitglieder des medizinischen Teams lange Zeit auf der Rhabwar sind und sich nur einer, nämlich Sie selbst, auf dem Planeten befindet, wo die medizinische Hilfe gerade am dringendsten benötigt wird? Ich bin mir sicher, daß ich mit all den Hilfsvorrichtungen, die mir auf dem Unfalldeck zur Verfügung stehen, und mit der Unterstützung meiner Freunde Haslam und Chen ganz gut alleine mit diesen Patienten zurechtkommen werde.“