„Das ist ja höchst ungewöhnlich“, stellte er laut fest. „Dieser DCMH hat anscheinend eine geringe Menge teilweise verdauter Nahrung im Magen.“
„Das findest du ungewöhnlich?“ entgegnete Murchison mit verblüffter Stimme. „Immerhin enthalten die Probenbehälter vom Vorratsdeck Lebensmittel, und zwar handelt es sich dabei um flüssige, faserige und pulverige Substanzen. Alle enthalten hochwertige Nährstoffe, die für den Stoffwechsel sämtlicher drei Spezies geeignet sind. Was für einen Grund kann es da für Kannibalismus geben? Und warum, zum Teufel, haben dann alle gehungert? Das gesamte Deck ist bis oben hin mit Lebensmitteln vollgestopft.“
„Bist du ganz sicher, daß die.“, hakte Conway nach, wurde aber von einer Stimme unterbrochen, die im Kopfhörer derart verzerrt klang, daß man den Sprecher unmöglich erkennen konnte.
„Was ist das denn für ein Ding?“
„Captain?“ erkundigte sich Conway unsicher.
„Ja, Doktor!“ die Stimme war noch immer verzerrt, aber zu erkennen.
„Haben Sie den. den Täter gefunden?“
„Nein“, antwortete Fletcher barsch. „Noch ein Opfer. Hier ist ganz eindeutig noch ein Opfer.“
„Aber das Wesen bewegt sich, Sir!“ unterbrach ihn Dodds Stimme.
„Doktor“, fuhr der Captain fort, „könnten Sie sofort kommen? Und Sie bitte auch, Murchison.“
Fletcher hockte zusammengekauert im Eingang, der offensichtlich zum Kommandodeck des Schiffs führte, und rückte mit dem Schneidbrenner einem Gewirr von Trümmern zu Leibe, das fast den gesamten Raum zwischen Decke und Boden verstopfte. Wie Conway im Licht der nur noch wenigen intakten Notbeleuchtungskörper und der Sonne, die durch die offene Luke über ihnen hereinfiel, sehen konnte, herrschte hier ein heilloses Durcheinander. Praktisch hatte sich die gesamte an der Decke montierte Schiffsausrüstung beim Umstürzen losgerissen. Über den Steuerungsliegen an der gegenüberliegenden Wand des Decks ragten gebrochene Rohrleitungen und verbogene Stützträger mit gezackten Kanten in den Raum.
Da es sich um solide verankerte Steuerungsliegen handelte, waren sie an ihrem Platz geblieben. Allerdings waren sie leer, und die Haltegurte hingen schlaff herunter — bis auf eine Ausnahme, und diese bildete eine sehr große, nach oben geöffnete Kuppel, um die herum die Steuerungsliegen in geringem Abstand angeordnet waren. Und die Liege in dieser Kuppel war belegt. Conway kletterte auf die Kuppel zu, aber plötzlich verlor er mit den Füßen den Halt, und der Stumpf eines abgebrochenen Rohrs bohrte sich ihm schmerzhaft in die Seite, riß dabei aber glücklicherweise den Anzug nicht auf.
„Vorsichtig, verdammt noch mal!“ fuhr ihn Fletcher an. „Noch einen Verletzten können wir uns nun wirklich nicht leisten.“
„Jetzt reißen Sie mir bitte nicht gleich den Kopf ab, Captain“, entgegnete Conway und lachte dann verlegen über seine recht unglückliche Wortwahl.
Während er jetzt hinter dem Captain erneut auf die Kuppel zukletterte, dachte er daran, daß sich die diensthabende Crew und die Besatzungsmitglieder, die sich auf dem Schlafdeck befunden hatten, nach dem Absturz einen Weg durch dieses furchtbare Tohuwabohu hatten bahnen müssen, und das in aller Eile, weil die giftigen Dämpfe durch das Schiff geströmt waren. Natürlich waren sie viel kleiner als Terrestrier, aber selbst dann mußten sie sich an diesem Metallgewirr zwangsläufig schwere Schnittwunden zugezogen haben. Was ja auch mit Ausnahme des DCMH im Schlafraum und des noch unbekannten Aliens in der Kuppel der Fall gewesen war. Letztere hatten allerdings im Gegensatz zu den anderen offenbar keinen Fluchtversuch unternommen.
„Seien Sie bloß vorsichtig, Doktor“, warnte der Captain.
Eine Idee, die in Conways Hinterkopf bereits Gestalt angenommen hatte, löste sich wieder auf. Verärgert entgegnete er: „Was könnte mir dieser Alien schon tun, außer mich anzusehen und mit den Stümpfen zu zucken?“
Der verletzte Alien hing seitlich in den Gurten bis zum unteren Kuppelrand nach unten und hatte die längliche Form einer fleischigen Riesenbirne und die etwa vierfache Größe eines erwachsenen Terrestriers. Am schmalen Körperende saß der gewaltige Knollenkopf auf einem walroßartigen Hals, der so weit nach unten gebogen war, daß die beiden großen, weit auseinanderstehenden Augen die nahenden Retter beobachten konnten. Conway zählte sieben Stümpfe, die zwischen den Gurten hervorstanden und schwach zuckten, wahrscheinlich besaß das Wesen aber noch mehr, die er nur nicht sehen konnte.
Er lehnte sich gegen ein Steuerpult, das nicht aus der Verankerung gerissen worden war, und nahm den Scanner heraus, wartete aber mit der Untersuchung, bis die gerade auf dem Deck eingetroffene Murchison zu ihm heraufgeklettert war. Dann sagte er in bestimmtem Ton: „Wir müssen über Nacht bei diesem Verunglückten bleiben, Captain. Geben Sie bitte Lieutenant Haslam die Anweisung, beim Rückflug sämtliche Verletzten auf die Rhabwar mitzunehmen und beim nächsten Flug hierher die Bahre ohne unnötige Lebenserhaltungssysteme mitzubringen, damit der neue Verletzte überhaupt reinpaßt. Außerdem benötigen wir noch zusätzliche Sauerstoffflaschen für uns selbst und den Verwundeten, Heizgeräte, eine Hebevorrichtung, Gurte und was Sie sonst noch für erforderlich halten.“
Der Captain sah Conway eine ganze Weile schweigend an, dann sagte er: „Sie haben den Doktor gehört, Haslam.“
Während Murchison und Conway den neuentdeckten Verletzten untersuchten, gab Fletcher immer noch keinen Ton von sich, bis auf eine Warnung vor einem losen, in der nächsten Sekunde herabstürzenden Trümmerstück. Man brauchte dem Captain nicht zu sagen, daß zwischen der großen Kommandokuppel und der offenen Luke ein breiter Pfad freigeräumt werden mußte, wenn man die Bahre erst herein- und dann mit dem großen Alien wieder hinausbringen wollte. Das Ganze versprach zu einer langwierigen Schwerstarbeit zu werden, die wahrscheinlich den größten Teil der kommenden Nacht in Anspruch nehmen würde und zusätzlich dadurch erschwert wurde, daß Murchison, Conway oder der Patient nicht von herabfallenden Trümmern getroffen werden durften. Der Chefarzt und die Pathologin aber waren viel zu sehr in die Untersuchung vertieft, um sich Gedanken über herabstürzenden Schutt zu machen.
„Ich versuche lieber erst gar nicht, diese Spezies zu klassifizieren“, sagte Conway fast eine Stunde später, als sie Dr. Prilicla eine Zusammenfassung der Ergebnisse ihrer ersten Untersuchung mitteilten. „Der Verletzte hat oder hatte zehn an den Seiten verteilte Glieder von verschiedener Dicke, jedenfalls nach den Stümpfen zu urteilen. Die einzige Ausnahme ist ein an der Unterseite des Körpers sitzendes Glied, das einen größeren Durchmesser als alle anderen hat. Der Zweck dieser fehlenden Gliedmaßen bleibt jedoch vollkommen im dunkeln, genauso wie die Anzahl und Art der daran sitzenden Greif- oder Fortbewegungsorgane.
Das Gehirn ist groß und gut entwickelt“, fuhr er in seinem Bericht fort und blickte zur Seite, um sich das von Murchison bestätigen zu lassen, „und besitzt einen kleinen, gesonderten Lappen, dessen hoher Mineralgehalt in der Zellstruktur auf einen zur Klassifikation V gehörenden.“
„Etwa ein Weitstrecken-Telepath?“ unterbrach ihn Prilicla aufgeregt.
„Das würde ich nicht sagen“, antwortete Conway. „Und wenn, dann erstrecken sich seine telepathischen Fähigkeiten höchstens auf die eigene Spezies. Wahrscheinlich ist er aber eher bestenfalls ein Empath. Das wird auch durch die Tatsache bestätigt, daß die Ohren gut entwickelt sind und der Mund trotz seiner geringen Größe und kaum vorhandenen Zähne dieFähigkeit zur Artikulation von Sprachlauten aufweist. Ein Wesen, das hauptsächlich durch Hören und Sprechen kommuniziert, kann aber eigentlich kein Weitstrecken-Telepath sein, da die gesprochene Sprache allenfalls eine Ergänzung telepathischer Fähigkeiten ist. Der Verletzte hat jedenfalls bei unserem Anblick keine Anzeichen von Aufregung gezeigt, und das könnte bedeuten, daß er sich durch empathische Fähigkeiten unserer guten Absichten bewußt ist.