Fletcher, Murchison und Conway landeten neben dem Orligianer. Sie sagten kein Wort und bemühten sich angestrengt, an nichts zu denken, damit Prilicla, der langsam das verunglückte Schiff umkreiste, mit einem Minimum an emotionalen Störungseinflüssen etwaige Überlebende aufspüren konnte. Falls irgendein Wesen in diesem Wrack noch lebte, egal, wie schwach dessen Lebensfunke auch sein mochte, dann würde es der kleine Empath entdecken.
„Das ist ja äußerst merkwürdig, Freund Conway“, meldete Prilicla, nachdem fast fünfzehn Minuten verstrichen waren und sie alle unwillkürlich Gefühle der Ungeduld ausstrahlten. „An Bord ist noch Leben, wenn auch nur ein einzelnes Wesen, dessen emotionale Ausstrahlung viel zu schwach ist, als daß ich sie genau lokalisieren könnte. Aber im Gegensatz zu dem, was normalerweise unter solchen Umständen zu erwarten ist, gibt es keinerlei Anzeichen dafür, daß sich der Überlebende in einer Notlage befindet.“
„Könnte es sich bei dem Überlebenden vielleicht um ein Kleinkind handeln?“ fragte Krach-Yul. „Eins, das die Eltern an einen sicheren Platz gebracht haben, bevor sie selbst umgekommen sind, und das noch zu jung ist, um die Gefahr zu erkennen?“
Prilicla, der niemals gegenüber einem anderen Wesen eine abweichende Meinung äußerte, weil er sonst der Gegenseite Anlaß zu unangenehmer emotionaler Ausstrahlung geben könnte, antwortete: „Selbst diese Möglichkeit kann nicht ausgeschlossen werden, mein Freund.“
„Dann vielleicht ein Embryo, der immer noch in seinem toten Elternteil lebt?“ fragte Murchison.
„Das scheint ebenfalls nicht ganz unmöglich zu sein, meine Freundin“, antwortete Prilicla auf für seine Verhältnisse fast unmißverständliche Art.
„Das heißt also, daß Sie von dieser Idee auch nichts halten“, erwiderte die Pathologin lachend.
„Aber im Wrack befindet sich doch wirklich ein Überlebender“, mischte sich der Captain ungeduldig ein. „Also lassen Sie uns reingehen und ihn da rausholen.“
Fletcher schlängelte sich durch die Doppelluke der transportablen Luftschleuse hindurch bis unter die Falten des widerstandsfähigen, durchsichtigen Plastikstoffs. Im aufgeblasenen Zustand bildete der Stoff eine Kammer, die groß genug war, um sich darin mit der Befreiung des Überlebenden zu befassen und ihn, falls erforderlich, einer ersten Notbehandlung zu unterziehen.
Murchison und Conway verbrachten in der Zwischenzeit mehrere Minuten an je einer der winzigen Sichtluken, die so tief versenkt waren, daß sie im Licht der Helmlampen nur lederne Haut erkennen konnte, die keine besonderen Merkmale aufwies.
Als sie sich schließlich zum Captain in die Schleuse hineinzwängten, sagte Fletcher: „Wenn es nur nicht so viele verschiedene Möglichkeiten geben würde, eine Tür zu öffnen. Sie könnte in den Angeln nach innen oder außen aufschwingen, sich durch das Herausdrehen von Schrauben mit Links- oder Rechtsgewinde öffnen lassen oder zu den Seiten oder auch nach oben oder unten aufschieben lassen. Der Öffnungsschalter für diese Luke scheint ein einfacher versenkter Hebel zu sein, der sich, oh!“
Die große Metalluke schwang auf. Conway spannte die Muskeln an undwartete darauf, daß der Luftstrom aus dem Schiff die transportable Schleuse aufblasen und an seinem Anzug zerren würde — aber nichts dergleichen geschah. Der Captain hielt sich mit beiden Händen am Lukenrand fest, stieß sich mit den Fußmagneten ab, so daß sich seine Beine vom Schiffsrumpf lösten und zog sich mit dem Kopf tief in die Öffnung hinein. „Das ist überhaupt keine Luftschleuse, sondern nur eine Abdeckplatte, um an mechanische und elektrische Einrichtungen zu gelangen, die sich zwischen Innen- und Außenhaut befinden. Ich kann Kabelstränge und Rohre erkennen, außerdem irgendwas, das dem Aussehen nach ein.“
„Ich brauche sofort eine Atmosphäreprobe, schnell“, unterbrach ihn Murchison.
„Tut mir leid, Murchison“, erwiderte Fletcher. Er ließ mit einer Hand den Lukenrand los, deutete vorsichtig in die Öffnung und fuhr fort: „Es sieht eindeutig so aus, als ob nur die Innenhaut luftdicht ist. Wenn Sie eine Probe ziehen wollen, müssen Sie den Bohrer genau hier in der Ecke zwischen der Stützstrebe und dem Kabeltunnel ansetzen, dann dürfte eigentlich nichts passieren. Ich weiß zwar nicht, wie gut die Isolierung ist, aber nach dem geringen Durchmesser zu urteilen, fließt bestimmt nicht allzuviel Spannung durch die Kabel. Angesichts der Farbkennzeichnung würde ich sagen, die Aliens verfügen über eine ähnliche visuelle Wahrnehmung wie wir, oder glauben Sie nicht?“
„Doch, das glaube ich auch“, stimmte ihm Murchison zu.
Conway schlug schnell vor: „Wenn du einen Fünf-Millimeter-Bohrer nimmst, könnte man von der Größe her auch gleich die Kamerasonde durchs Loch stecken.“
„Genau das hab ich vor“, entgegnete sie trocken.
Der Bohrer surrte kurz — das Geräusch drang durch den Metallrumpf und den Raumanzug hindurch bis an Conways Ohren —, und dann zischte die Schiffsatmosphäre durch den hohlen Bohrkopf direkt in den angeschlossen Analysator.
„Für unsere Verhältnisse ist der Druck ein wenig niedrig“, berichtete Murchison ruhig. „Aber für den Überlebenden könnte er sowohl gefährlich niedrig als auch vollkommen normal sein. Nach der Zusammensetzung, dem Verhältnis zwischen Sauerstoff und Edelgasen, handelt es sich um eine warmblütige sauerstoffatmende Lebensform. Ich führe jetzt die Sonde ein.“
Conway beobachtete, wie sie das Verbindungsstück zum Analysator vom hohlen Bohrer abzog und es dann so geschickt durch die Kamerasonde ersetzte, daß dabei nicht mehr als ein paar Kubikzentimeter der Schiffsatmosphäre verlorengegangen sein konnten. Dabei fädelte sie die durchsichtige Röhre samt eingebauter Linse, Lichtquelle und Übertragungskamera mit größter Sorgfalt in den hohlen Bohrschaft ein und befestigte an deren Ende das mit einem Vergrößerungsschirm versehene Okular, so daß sie trotz des Raumhelms das von der Sonde übertragene Bild erkennen konnte.
Während der nächsten zehn Minuten, die den anderen wie eine Stunde vorkam, sagte sie kein Wort und drehte die Linse in alle Richtungen, wobei sie die Lichtstärke variierte. Bis sie sich schließlich rückwärts aus der Öffnung herausschlängelte, damit auch Conway und die anderen einen Blick auf den Bildschirm werfen konnten.
„Der Alien ist groß“, merkte Murchison kurz an.
Der Innenraum des Wracks war ein hohler Zylinder, der weder Trennwände noch irgendwelche Querstreben hatte. In der Mitte des Deckbodens, den Conway deshalb dafür hielt, weil er eine durch das gesamte Schiff verlaufende Fläche bildete, erstreckten sich zwei Reihen dicht nebeneinander gesetzter Löcher, die einen Durchmesser zwischen acht und zehn Zentimetern hatten. Sieben oder acht Fußpaare des Überlebenden steckten in diesen Löchern, die deshalb wahrscheinlich genauso Bestandteil des Sicherungssystems des Schiffs waren wie die breiten, gerissenen Gurte, die lose auf dem Körper des Aliens lagen.
Die Kamerasonde befand sich dicht über dem Boden, so daß Conway an dem Teil der Körperseite entlangsehen konnte, von dem die Füße noch von den Löchern im Boden festgehalten wurden. In etwas größerer Entfernung, wo die Füße durch die Wucht des Unfalls aus den Löchern herausgerissen worden waren, erkannte er die kurzen und stämmigen Beinpaare und die blaßgraue Körperunterseite des ’Hundertfüßers’ in allen Einzelheiten. In entgegengesetzter Richtung — ob sich dort der Kopf oder der Schwanz des Wesens befand, vermochte Conway nicht zu sagen — sah er einen Teil der Körperoberfläche und ein einzelnes Bündel Rückententakel. Der langgezogene, zylindrische Innenraum ließ dem Wesen nicht viel Bewegungsfreiheit. Trotz der starken Sichtbehinderung, die durch die Windungen und Biegungen des schlaffen und gewichtslosen Alienkörpers verursacht wurde, konnte Conway am Rande seines Blickfelds gerade noch drei bleistiftdünne, durchsichtige und anscheinend elastische Schlauchstücke ausmachen, die von einem an der Wand befestigten Behälter aus mit dem Körper des Überlebenden verbunden waren.