Ich hatte keine Ahnung gehabt, dass diese sanfte, gemütliche Frau ein Teil der Vorhut gewesen war. Es dauerte einen Moment, bis ich das verarbeitet hatte. Ich sah sie überrascht und plötzlich mit mehr Respekt an. Bisher hatte ich Helfer nie sehr ernst genommen - ich hatte noch nie einen nötig gehabt. Sie waren etwas für Leute mit Schwierigkeiten, für die Schwachen, und ich schämte mich, hier zu sein. Dadurch, dass ich jetzt Kathys Geschichte kannte, fühlte ich mich in ihrer Gegenwart etwas weniger unwohl. Sie wusste, was Stärke war.
»Hat es Ihnen viel ausgemacht?«, fragte ich. »Vorzugeben, Sie wären eine von ihnen?«
»Nein, eigentlich nicht. Wissen Sie, ich hatte genug damit zu tun, mich an diesen Wirt zu gewöhnen - es gab so viel Neues zu verarbeiten. Reizüberflutung. Alles, was darüber hinausging, dem vorgegebenen Muster zu folgen, hätte mich am Anfang überfordert.«
»Und Curt... Sie haben sich entschieden, mit dem Mann Ihres Wirts zusammenzubleiben? Auch nachdem es vorbei war?«
Diese Frage war schon gezielter und Kathy erfasste das sofort. Sie verlagerte ihr Gewicht und zog die Beine auf die Sitzfläche ihres Sessels. Nachdenklich fixierte sie einen Punkt direkt über meinem Kopf, während sie antwortete.
»Ja, ich habe mich für Curt entschieden - und er sich für mich. Am Anfang war es nichts als Zufall, ein Auftrag. Dass wir so viel Zeit miteinander verbrachten und die Gefährlichkeit unserer Mission teilten, führte natürlich dazu, dass wir eine recht enge Beziehung zueinander aufbauten. Als Universitätspräsident hatte Curt viele Kontakte, wissen Sie. Unser Haus war da natürlich ein guter Ort für Implantationen. Wir hatten oft Besuch. Viele kamen als Menschen durch die Tür herein und gingen als unsere Spezies wieder hinaus. Es musste alles sehr schnell und leise vonstattengehen - Sie wissen ja, wie sehr diese Wirte zur Gewalt neigen. Wir lebten jeden Tag in dem Wissen, dass es im nächsten Moment vorbei sein könnte. Es war ein Zustand dauernder Aufregung und Angst. Alles gute Gründe für Curt und mich, zusammenzubleiben, als es nicht länger nötig war, sich zu verstecken. Und ich könnte Sie belügen, Ihre Ängste zerstreuen, indem ich Ihnen sage, dass das die Gründe waren. Aber ...« Sie schüttelte mit dem Kopf und schien dann tiefer in den Sessel zu sinken. Ihr Blick durchbohrte mich. »Jahrtausendelang haben die Menschen nicht herausgefunden, was es mit der Liebe auf sich hat. Wie viel davon ist physisch, wie viel spielt sich nur im Kopf ab? Wie viel ist Zufall und wie viel Schicksal? Warum scheitern Paare, die perfekt zueinander passen, und völlig unterschiedliche Partner bleiben zusammen? Ich kenne die Antworten genauso wenig wie Sie. Liebe passiert einfach. Mein Wirt hat Curts Wirt geliebt und diese Liebe hat den Besitzerwechsel des Gehirns überlebt.«
Sie sah mich aufmerksam an und reagierte mit einem leichten Stirnrunzeln, als ich in meinem Sessel zusammensackte. »Melanie trauert immer noch um Jared«, stellte sie fest. Ich spürte, wie ich unweigerlich mit dem Kopf nickte. »Sie trauern um ihn.«
Ich schloss die Augen. »Träumen Sie immer noch?« »Jede Nacht«, murmelte ich.
»Erzählen Sie mir davon.« Ihre Stimme war sanft, betörend.
»Ich will nicht daran denken.«
»Ich weiß. Versuchen Sie es trotzdem. Vielleicht hilft es.« »Wie denn? Wie soll es helfen, wenn ich Ihnen erzähle, dass ich jedes Mal, wenn ich die Augen schließe, sein Gesicht vor mir sehe? Dass ich aufwache und weine, weil er nicht da ist? Dass die Erinnerungen so stark sind, dass ich ihre nicht mehr von meinen unterscheiden kann?«
Ich brach ab und biss die Zähne zusammen.
Kathy zog ein weißes Taschentuch aus ihrer Tasche und reichte es mir. Als ich mich nicht rührte, stand sie auf, kam zu mir und ließ es in meinen Schoß fallen. Sie setzte sich auf meine Sessellehne und wartete.
Eine halbe Minute lang hielt ich stur aus. Dann nahm ich wütend das Tuch und wischte mir die Augen.
»Ich hasse das.«
»Alle weinen in ihrem ersten Jahr. Diese Gefühle sind so unglaublich. Wir sind alle ein bisschen wie Kinder, unabhängig davon, ob wir das geplant hatten oder nicht. Ich bin jedes Mal, wenn ich einen schönen Sonnenuntergang gesehen habe, in Tränen ausgebrochen. Manchmal sogar einfach beim Geschmack von Erdnuss-butter.« Sie tätschelte meinen Kopf, dann fuhr sie sanft mit ihren Fingern durch die Haarsträhne, die ich immer hinters Ohr steckte.
»Sie haben so schönes, glänzendes Haar«, stellte sie fest. »Und jedes Mal, wenn ich Sie sehe, ist es wieder ein Stück kürzer geworden. Warum schneiden Sie es so kurz?«
In Tränen aufgelöst hatte ich sowieso nicht mehr viel an Würde zu verlieren. Warum also vorgeben, dass es so leichter zu pflegen war, wie ich es normalerweise tat? Schließlich war ich hierhergekommen, um zu beichten und um Hilfe zu bitten - ich konnte es also ebenso gut hinter mich bringen.
»Es ärgert sie. Sie hat es lieber lang.«
Ich hatte eigentlich erwartet, dass sie nach Luft schnappen würde, aber das tat sie nicht. Kathy beherrschte ihren Job. Ihre Antwort kam nur eine Sekunde zu spät und etwas stockend.
»Sie ... sie ... sie ist immer noch dermaßen ... präsent?«
Die schreckliche Wahrheit sprudelte aus mir heraus. »Wenn sie es will. Unsere Geschichte langweilt sie. Während ich arbeite, verhält sie sich still. Aber sie ist trotzdem da. Manchmal spüre ich, dass sie genauso gegenwärtig ist wie ich.« Meine Stimme war nur noch ein Flüstern.
»Wanderer!«, rief Kathy entsetzt aus. »Warum haben Sie mir nicht gesagt, dass es so schlimm ist? Wie lange geht das schon so?«
»Es wird immer schlimmer. Anstatt schwächer zu werden, scheint sie noch an Stärke zu gewinnen. Es ist noch nicht so schlimm wie in dem Fall, von dem der Heiler erzählt hat - Sie erinnern sich doch, dass wir über Kevin gesprochen haben, oder? Sie hat nicht die Kontrolle über mich übernommen. Wird sie auch nicht. Das werde ich nicht zulassen!« Meine Stimme wurde wieder lauter.
»Natürlich nicht«, sagte sie beschwichtigend. »Das wird natürlich nicht passieren. Aber wenn Sie derart ... unglücklich sind, hätten Sie mir das früher sagen sollen. Sie müssen zu einem Heiler gehen.«
In meinem Gefühlschaos brauchte ich eine Weile, bis ich verstand.
»Zu einem Heiler? Sie meinen, ich soll springen?«
»Niemand würde Ihnen eine solche Entscheidung vorwerfen, Wanderer. Bei einem fehlerhaften Wirt hat jeder vollstes Verständnis dafür ...«
»Fehlerhaft? Sie ist nicht fehlerhaft. Ich bin fehlerhaft. Ich bin zu schwach für diese Welt!« Ich ließ den Kopf in meine Hände sinken, als mich die Demütigung überwältigte. Neue Tränen stiegen mir in die Augen.
Kathy legte mir den Arm um die Schultern. Ich war so sehr damit beschäftigt, meine Gefühle unter Kontrolle zu bringen, dass ich mich ihr nicht entzog, auch wenn mir das eigentlich zu viel Nähe war.
Sie störte es auch. Sie wollte nicht von einer Außerirdischen umarmt werden.
Natürlich war Melanie in diesem Augenblick sehr präsent und unerträglich triumphierend, als ich schließlich eingestand, wie viel Macht sie besaß. Sie war geradezu übermütig. Wenn ich derart von Gefühlen übermannt wurde, war es immer besonders schwierig, sie unter Kontrolle zu halten. Ich versuchte mich selbst zu beruhigen, damit ich sie wieder in ihre Schranken verweisen konnte.
Du bist diejenige, die hier nichts zu suchen hat. Ihr Gedanke war schwach, aber verständlich. So schlimm war es also schon, dass sie stark genug war, mit mir zu sprechen, wann immer sie wollte. So schlimm wie ganz am Anfang, als ich gerade bei Bewusstsein war.