»Wanda, ist alles in Ordnung?«
Die Sucherin sah an mir vorbei in die Richtung, aus der Jebs Stimme kam.
»Ja, alles okay, Jeb«, keuchte ich. Meine Stimme war rau und gepresst. Ich war überrascht, wie mitgenommen sie klang.
Die dunklen Augen der Sucherin huschten unsicher zwischen uns hin und her. Dann wich sie vor mir zurück und drückte sich gegen die Wand. Ich erkannte diese Stellung - erinnerte mich genau, wie sie sich anfühlte.
Eine Hand legte sich mir vorsichtig auf die Schulter und drehte mich herum.
»Was ist los mit dir, Kleines?«, fragte Jeb.
»Ich brauche noch einen Moment«, erklärte ich ihm atemlos. Ich sah ihm direkt in seine hellblauen Augen und sagte etwas, das ganz eindeutig keine Lüge war. »Ich habe noch eine letzte Frage. Aber ich brauche unbedingt eine Minute für mich allein. Könnt ihr ... so lange warten?«
»Klar, wir können noch ein bisschen warten. Gönn dir eine Verschnaufpause.«
Ich nickte und entfernte mich, so schnell ich konnte, von dem Gefängnis. Meine Beine waren steif vor Angst, aber sobald ich mich in Bewegung gesetzt hatte, fand ich in meinen gewohnten Gang. Als ich an Aaron und Brandt vorbeikam, rannte ich beinahe.
»Was ist passiert?«, hörte ich Aaron mit Befremden in der Stimme Brandt zuflüstern.
Ich wusste nicht genau, wo ich mich verstecken sollte, während ich nachdachte. Meine Füße führten mich wie auf Autopilot durch die Gänge auf mein Schlafzimmer zu. Ich konnte bloß hoffen, dass es leer war.
Es war dunkel, durch die Ritzen in der Decke drang kaum Sternenlicht. Ich sah Lily nicht, bis ich in der Dunkelheit über sie stolperte.
Ich hätte ihr vom Weinen verschwollenes Gesicht beinahe nicht erkannt. Sie hatte sich mitten im Gang zusammengerollt. Ihre Augen waren weit aufgerissen, sie schien nicht genau zu begreifen, wer ich war.
»Warum?«, fragte sie mich.
Ich sah sie wortlos an.
»Das Leben und die Liebe gehen weiter. Aber warum tun sie das? Das sollten sie nicht. Nicht mehr. Wozu auch?«
»Ich weiß es nicht, Lily. Ich weiß es auch nicht.«
»Warum?«, fragte sie noch einmal, aber die Frage richtete sich nicht mehr an mich. Ihre glasigen Augen sahen durch mich hindurch.
Ich trat vorsichtig über sie hinweg und eilte in mein Zimmer.
Ich musste meine eigene Frage beantworten.
Zu meiner großen Erleichterung war der Raum leer. Ich warf mich bäuchlings auf die Matratze, auf der Jamie und ich schliefen.
Als ich Jeb erklärt hatte, dass ich noch eine letzte Frage stellen wollte, war das die Wahrheit gewesen. Aber es war keine Frage an die Sucherin. Es war eine Frage an mich.
Die Frage war: Würde ich - nicht könnte ich - es tun?
Ich konnte der Sucherin das Leben retten. Ich wusste, wie. Es würde keins der Leben hier in Gefahr bringen. Außer meinem eigenen. Das würde ich dafür eintauschen müssen.
Nein. Melanie versuchte trotz ihrer Panik entschieden zu wirken.
Bitte lass mich nachdenken. Nein.
Das ist die Lösung, Mel. Es ist sowieso unvermeidlich. Das wird mir jetzt klar. Ich hätte es schon längst erkennen müssen. Es ist so offensichtlich.
Nein, ist es nicht.
Mir fiel das Gespräch wieder ein, das wir geführt hatten, als Jamie krank gewesen war. Als wir uns versöhnt hatten. Ich hatte ihr gesagt, dass ich sie nicht auslöschen würde und dass es mir leidtat, dass ich nicht mehr für sie tun konnte.
Es war keine Lüge gewesen, sondern vielmehr ein unvollständiger Satz. Ich konnte nicht mehr für sie tun – und dabei selbst am Leben bleiben.
Die eigentliche Lüge hatte ich Jared erzählt. Ich hatte ihm nur Sekunden später erklärt, dass ich nicht wusste, wie ich mich selbst verschwinden lassen konnte. Im Kontext unserer Unterhaltung war es die Wahrheit gewesen. Ich wusste nicht, wie ich mich in Melanies Körper in nichts auflösen sollte. Aber es überraschte mich, dass ich nicht schon damals die offenkundige Lüge aus diesem Satz herausgehört hatte - nicht schon damals erkannt hatte, was ich jetzt erkannte. Natürlich wusste ich, wie ich mich selbst verschwinden lassen konnte.
Ich hatte diese Möglichkeit nur einfach nie für realisierbar gehalten, da sie den totalen Verrat an allen Seelen auf diesem Planeten darstellte. Sobald die Menschen erfuhren, dass ich die Antwort wusste, für die sie wieder und wieder gemordet hatten, würde ich dafür zahlen müssen.
Nein, Wanda!
Willst du nicht frei sein? Eine lange Pause.
Ich würde dich nie darum bitten, sagte sie schließlich. Und ich würde das für dich nicht tun. Und ganz bestimmt würde ich es für die verdammte Sucherin nicht tun!
Du musst mich nicht darum bitten. Ich denke, ich hätte es sowieso freiwillig getan ... irgendwann.
Warum glaubst du das?, wollte sie wissen. Sie war kurz davor, zu weinen. Das rührte mich. Ich hatte erwartet, dass sie begeistert wäre.
Zum einen ihretwegen. Wegen Jared und Jamie, meine ich. Ich kann ihnen die ganze Welt geben, alles, was sie begehren. Ich kann ihnen dich geben. Ich hätte das wahrscheinlich sowieso irgendwann begriffen. Wer weiß? Vielleicht hätte mich auch Jared darum gebeten. Du weißt, dass ich nicht Nein gesagt hätte.
Ian hat Recht. Du bist zu aufopferungsvoll. Du kennst keine Grenzen. Du brauchst Grenzen, Wanda!