»Wanda?«, fragte er.
Mein Herz zog sich schmerzhaft zusammen. »Schwörst du, Doc? Alle meine Bedingungen? Versprichst du mir das bei deinem Leben?«
»Ich verspreche es dir. Ich werde all deine Bedingungen erfüllen, Wanda. Ich schwöre es.« »Jared?«
»Ja. Es wird absolut niemand umgebracht, niemals.« »Ian?«
»Ich werde sie mit meinem eigenen Leben beschützen, Wanda.«
»Jeb?«
»Dies ist mein Haus. Alle, die etwas gegen diese Vereinbarung einzuwenden haben, müssen gehen.«
Ich nickte mit Tränen in den Augen. »Also gut. Bringen wir es hinter uns.«
Doc, der schon wieder ganz aufgeregt war, machte einen Schnitt in den Nacken der Heilerin, bis er den silbernen Glanz sehen konnte. Er legte das Skalpell schnell beiseite. »Und jetzt?«
Ich legte meine Hand auf seine.
»Taste dich am Rückgrat entlang. Kannst du es spüren? Ertaste die Größe der Abschnitte. Sie werden nach vorne hin kleiner. Okay, am Ende solltest du drei kleine ... Stummel fühlen können. Spürst du sie?«
»Ja«, hauchte er.
»Gut. Das sind die vorderen Fühler. Daran orientierst du dich. Jetzt schiebst du ganz vorsichtig den Finger unter den Körper, bis du auf die Reihe der Fortsätze triffst. Sie sind fest gespannt wie Drähte.«
Er nickte.
Ich führte ihn ein Drittel der Strecke hinunter und erklärte ihm, wie er abzählen konnte, wenn er sich unsicher war. Wir hatten keine Zeit, zu zählen, bei all dem Blut, das sie verlor. Ich war mir sicher, dass der Wirt der Heilerin, falls er zurückkehrte, in der Lage war, uns zu helfen - es musste irgendetwas dagegen geben. Ich half Doc, das größte Knötchen zu finden.
»Jetzt reibe es sanft in Richtung des Körpers. Massiere es leicht.«
Docs Stimme war plötzlich schrill und wurde leicht panisch.
»Es bewegt sich.«
»Das ist gut - das heißt, dass du es richtig machst. Gib ihr Zeit, sich zusammenzuwehen. Warte, bis sie sich ein bisschen nach oben dreht, dann nimm sie in die Hand.«
»Okay.« Seine Stimme zitterte.
Ich streckte den Arm nach Ian aus. »Gib mir deine Hand.«
Ich spürte, wie sich Ians Hand um meine schloss. Ich drehte sie um, bog seine Finger hoch, so dass seine Hand leicht gewölbt war, und zog sie neben Docs OP-Tisch.
»Gib Ian die Seele - vorsichtig, bitte.«
Ian würde den perfekten Assistenten abgeben. Wer sonst würde sich so gut um meine kleinen Verwandten kümmern, wenn ich nicht mehr da war?
Doc legte die Seele in Ians wartende Hand und machte sich dann sofort daran, den menschlichen Körper zu heilen.
Ian betrachtete das silberne Gebilde in seiner Hand, eher staunend als angewidert. Mir wurde ganz warm, als ich seine Reaktion beobachtete.
»Sie ist hübsch«, flüsterte er überrascht.
Unabhängig davon, was er für mich empfand, hatte er einen Parasiten erwartet, einen Tausendfüßler, ein Monster. Die zerstückelten Seelen, die er hier bisher aufgewischt hatte, hatten ihn nicht auf diese Schönheit in seiner Hand vorbereitet.
»Das finde ich auch. Tu sie vorsichtig in deinen Behälter.«
Ian hielt die Seele noch einen Augenblick in seiner gewölbten Hand, als wollte er sich den Anblick und das Gefühl einprägen. Dann ließ er sie ganz behutsam in die Kälte gleiten.
Jared zeigte ihm, wie man den Deckel verschloss.
Eine Last fiel von mir ab.
Es war erledigt. Es war zu spät, um meine Meinung zu ändern. Und es fühlte sich nicht so schrecklich an, wie ich befürchtet hatte, denn ich war sicher, dass sich diese vier Menschen genau so um die Seelen kümmern würden wie ich. Wenn ich nicht mehr da war.
»Passt auf!«, schrie Jeb plötzlich. Er riss das Gewehr hoch und zielte an uns vorbei.
Wir drehten uns zu der Gefahr um und Jareds Tiefkühlbehälter fiel auf den Boden, als er auf den männlichen Heiler zusprang, der auf dem Feldbett kniete und uns entsetzt anstarrte. Ian war geistesgegenwärtig genug, seinen Behälter festzuhalten.
»Chloroform«, schrie Jared, als er sich auf den Heiler stürzte und ihn zurück auf das Feldbett drückte. Aber es war zu spät.
Der Heiler starrte mich direkt an, sein Gesicht war beinahe kindlich in seiner Verwirrung. Ich wusste, warum sein Blick auf mir ruhte - der Schein der Laterne wurde sowohl von seinen als auch von meinen Augen reflektiert und warf Diamantenmuster an die Wand.
»Warum?«, fragte er mich.
Dann wurde sein Gesicht ausdruckslos und sein Körper sackte auf dem Feldbett zusammen. Zwei Blutfäden flössen lautlos aus seinen Nasenlöchern.
»Nein!«, schrie ich und stürzte auf seinen reglosen Körper zu,
obwohl ich wusste, dass es bereits zu spät war. »Nein!«
Vergessen
»Elizabeth?«, fragte ich. »Anne? Karen? Wie heißt du? Komm schon. Ich bin sicher, dass du es weißt.«
Der Körper der Heilerin lag immer noch schlaff auf dem Feldbett. Es war viel Zeit vergangen - ich wusste nicht genau, wieviel. Mehrere Stunden. Ich hatte noch nicht geschlafen, obwohl die Sonne bereits hoch am Himmel stand. Doc war auf den Berg hoch geklettert, um die Planen wegzuräumen, und die Sonne schien nun durch die Löcher in der Decke und wärmte meine Haut. Ich hatte die namenlose Frau zur Seite geschoben, damit sie nicht von der Sonne geblendet wurde.
Jetzt berührte ich vorsichtig ihr Gesicht und strich ihr das weiche braune Haar, das mit weißen Strähnen durchsetzt war, aus der Stirn.
»Julie? Brittany? Angela? Patricia? Bin ich nah dran? Sprich mit mir. Bitte.«
Alle außer Doc - der leise auf einem Feldbett in der dunkelsten Ecke des Krankenflügels schnarchte - waren bereits vor Stunden gegangen. Einige wollten den Wirtskörper beerdigen, den wir verloren hatten. Ich schauderte, als ich an seine ungläubige Mine dachte und daran, wie sein Gesicht plötzlich erschlafft war ...
Warum?, hatte er mich gefragt.
Ich wünschte mir so sehr, dass die Seele auf eine Antwort gewartet hätte, so dass ich es ihm hätte erklären können. Vielleicht hätte er es sogar verstanden. Was war schließlich letzten Endes wichtiger als die Liebe? War sie für eine Seele nicht der Kern von allem? Und genau das wäre meine Antwort gewesen: Liebe.
Wenn er gewartet hätte, hätte er vielleicht die Wahrheit erkannt, die darin steckte. Ich war sicher, dass er den menschlichen Körper am Leben gelassen hätte, wenn er es wirklich verstanden hätte.
Die Bitte wäre ihm allerdings wahrscheinlich komisch vorgekommen. Dies war für ihn sein Körper, kein eigenständiges Etwas. Ein Selbstmord war für ihn nichts weiter als ein Selbstmord, er sah ihn nicht gleichzeitig als Mord an. Nur ein Leben würde dadurch beendet. Und vielleicht hatte er damit sogar Recht.
Wenigstens hatten die Seelen überlebt. Das Licht auf seinem Tiefkühlbehälter leuchtete mattrot neben ihrem; ich konnte von Menschen keinen deutlicheren Beweis für ihre Loyalität erhalten als die Tatsache, dass sie sein Leben verschont hatten.
»Mary? Margaret? Susan? Jill?«
Obwohl Doc schlief und ich ansonsten allein war, konnte ich den Nachhall der Anspannung spüren, die die anderen zurückgelassen hatten; sie hing immer noch in der Luft.
Die Anspannung rührte daher, dass die Frau nicht aufgewacht war, nachdem die Wirkung des Chloroforms nachgelassen hatte. Sie hatte sich nicht gerührt. Sie atmete noch, ihr Herz schlug noch, aber sie hatte auf keinen von Docs Versuchen, sie aufzuwecken, reagiert.
War es zu spät? War sie verloren? War sie bereits weg?
Genauso tot wie der Körper des Mannes?
Waren sie das alle? Gab es nur ein paar wenige, wie Lacey, der Wirtskörper der Sucherin, und Melanie - die Lauten, die Widerständler -, die zurückgeholt werden konnten?
War Lacey ein Ausnahmefall? Würde Melanie wirklich ebenso zurückkehren ... oder war selbst das fraglich?
Ich bin nicht weg. Ich bin hier. Aber Mels Gedankenstimme war kleinlaut. Sie machte sich ebenfalls Sorgen.