Sunnys Augen füllten sich erneut mit Tränen und sie vergrub ihr Gesicht an Kyles Brust.
»Ich will nicht weg, ich will bei dir bleiben«, klagte sie dem großen Mann, dem sie so vollkommen zu vertrauen schien.
»Ich weiß, Sunny. Tut mir leid.« Sunny brach in Schluchzen aus.
Ich blinzelte und versuchte zu verhindern, dass mir erneut Tränen in die Augen stiegen. Ich machte einen Schritt auf Sunny zu und strich ihr über das lockige schwarze Haar.
»Ich würde gern einen Moment mit ihr reden, Kyle«, murmelte ich.
Er nickte mit besorgtem Gesicht und befreite sich aus der Umklammerung des Mädchens.
»Nein, nein«, bettelte sie.
»Es ist alles in Ordnung«, versprach ich. »Er geht nicht weg. Ich möchte dich nur ein paar Sachen fragen.«
Kyle drehte sie zu mir um und sie schlang die Arme um mich. Ich zog sie in die entlegenste Ecke des Raums, so weit wie möglich weg von der namenlosen Frau. Ich wollte nicht, dass unser Gespräch den Wirt der Heilerin noch mehr verwirrte oder verängstigte. Kyle folgte uns, nie mehr als ein paar Zentimeter von uns entfernt. Wir setzten uns mit dem Gesicht zur Wand auf den Boden.
»Scheiße«, murmelte Kyle. »Ich hätte nicht gedacht, dass es so schwierig werden würde. Das ist echt vertrackt.«
»Wie hast du sie gefunden? Und gefangen?«, fragte ich. Das schluchzende Mädchen reagierte nicht, als ich ihn ausfragte, sie weinte an meiner Schulter einfach weiter. »Was ist passiert? Warum verhält sie sich so?«
»Na ja, ich dachte, sie könnte vielleicht in Las Vegas sein ... Dort habe ich zuerst gesucht, bevor ich weiter nach Portland gefahren bin. Weißt du, Jodi hatte ein enges Verhältnis zu ihrer Mutter und Doris hat dort gelebt. Nachdem ich gesehen hatte, wie es bei dir mit Jared und dem Jungen war, dachte ich, dass sie vielleicht dahin gehen würde, obwohl sie nicht Jodi war. Und ich hatte Recht. Sie waren alle da, in demselben alten Haus, Doris' Haus: Doris und ihr Mann Warren - sie hatten andere Namen, aber die habe ich nicht genau verstanden - und Sunny. Ich habe sie den ganzen Tag lang beobachtet, bis es Nacht wurde. Sunny war allein in Jodis altem Zimmer. Ich habe mich reingeschlichen, als alle seit ein paar Stunden schliefen. Ich riss Sunny hoch, warf sie mir über die Schulter und sprang aus dem Fenster. Ich habe mich echt beeilt, zum Jeep zurückzukommen, weil ich dachte, sie würde zu schreien anfangen. Dann hatte ich Angst, weil sie nicht zu schreien anfing. Sie war so still! Ich hatte Angst, sie hätte ... du weißt schon. Wie der Typ, den wir mal geschnappt haben.«
Ich zuckte zusammen - ich hatte eine frischere Erinnerung. »Also ließ ich sie herunter und sie lebte, sah nur mit großen
Augen zu mir auf. Schrie immer noch nicht. Ich trug sie bis zum Jeep. Eigentlich hatte ich vorgehabt, sie zu fesseln, aber ... sie sah gar nicht so erschreckt aus. Sie versuchte zumindest nicht abzuhauen. Also habe ich sie einfach angeschnallt und bin losgefahren.
Sie hat mich eine ganze Weile bloß angestarrt und dann sagte sie schließlich: >Du bist Kyle<, und ich sagte: >Genau, und wer bist du?<, und sie nannte mir ihren Namen. Wie war der noch gleich?«
»Sunlight Passing Through the Ice«, flüsterte Sunny mit gebrochener Stimme. »Aber Sunny gefällt mir. Das ist schön.«
»Wie auch immer«, fuhr Kyle fort, nachdem er sich geräuspert hatte. »Es machte ihr überhaupt nichts aus, mit mir zu reden - sie hatte keine Angst, wie ich erwartet hatte. Also haben wir uns unterhalten.« Er schwieg einen Moment. »Sie hat sich gefreut, mich zu sehen.«
»Ich habe dauernd von ihm geträumt«, flüsterte mir Sunny zu. »Jede Nacht. Ich habe gehofft, die Sucher würden ihn finden, weil ich ihn so vermisst habe ... Als ich ihn dann sah, dachte ich, es wäre wieder der immer gleiche Traum.«
Ich schluckte laut.
Kyle fasste über mich herüber, um ihr die Hand auf die Wange zu legen.
»Sie ist so nett, Wanda. Können wir sie nicht irgendwo hinschicken, wo es wirklich schön ist?«
»Genau danach wollte ich sie fragen. Wo hast du überall gelebt, Sunny?«
Ich nahm die gedämpften Stimmen der anderen wahr, die Trudy willkommen hießen. Wir hatten ihnen den Rücken zugekehrt. Ich hätte gern gesehen, was vor sich ging, aber ich war auch froh, nicht abgelenkt zu werden. Ich versuchte mich auf die weinende Seele zu konzentrieren.
»Nur hier und bei den Bären. Ich bin fünf Lebensspannen dort gewesen. Aber hier gefallt es mir besser. Ich habe noch nicht mal ein viertel Leben hier verbracht!«
»Ich weiß. Glaub mir, ich kann dich verstehen. Gibt es vielleicht trotzdem irgendeinen Ort, wo du immer schon mal hinwolltest? Zu den Blumen vielleicht? Da ist es schön, ich bin schon da gewesen.«
»Ich will keine Pflanze sein«, murmelte sie an meiner Schulter.
»Die Spinnen ...«, setzte ich an, brach dann aber ab. Die Spinnen waren nicht das Richtige für Sunny.
»Ich bin die Kälte leid. Und ich mag Farben.«
»Ich weiß«, seufzte ich. »Ich bin selbst noch kein Delfin gewesen, aber ich habe gehört, dass es da schön sein soll. Farbe, Mobilität, Familie ...«
»Die sind alle so weit weg. Bis ich irgendwo ankomme, wäre Kyle schon ... er wäre ...« Sie hickste und fing dann wieder zu weinen an.
»Gibt es nicht noch mehr Möglichkeiten?«, fragte Kyle besorgt. »Sind da draußen nicht noch viel mehr Planeten?«
Ich konnte hören, wie Trudy mit der Heilerin sprach, aber ich blendete die Worte aus. Die Menschen sollten sich jetzt mal um sich selbst kümmern.
»Keine, die die interplanetaren Raumschiffe noch anfliegen«, erklärte ich ihm und schüttelte den Kopf. »Es gibt eine Menge Welten, aber nur ein paar, hauptsächlich neuere, sind noch zur Besiedlung geöffnet. Und es tut mir leid, Sunny, aber ich muss dich weit wegschicken. Die Sucher wollen meine Freunde hier finden und wenn sie können, werden sie dich hierher zurückbringen, damit du ihnen den Weg zeigst.«
»Ich kenne den Weg ja gar nicht«, schluchzte sie. Meine Schulter war von ihren Tränen durchnässt. »Er hat mir die Augen verbunden.«
Kyle sah mich an, als könne ich irgendein Wunder vollbringen und all das zu einem guten Ende führen. Wie die Medikamente, die ich besorgt hatte, irgendeine Art Magie. Aber ich wusste, dass ich keine Magie und keine Happy Ends mehr zu bieten hatte - zumindest nicht für die Seele in dieser Zweierverbindung.
Ich sah Kyle resigniert an. »Es kommen nur die Bären, die Blumen und die Delfine in Frage«, erklärte ich ihm. »Ich werde sie nicht auf den Feuerplaneten schicken.«
Die kleine Frau schauderte beim Klang dieses Namens.
»Keine Sorge, Sunny. Die Delfine werden dir gefallen. Da ist es schön. Natürlich ist es da schön.«
Sie schluchzte heftiger. Ich seufzte und fuhr fort.
»Sunny, ich muss dich etwas über Jodi fragen.« Kyle verkrampfte sich neben mir.
»Was ist mit ihr?«, murmelte Sunny.
»Ist sie ... ist sie noch bei dir da drin? Kannst du sie hören?«
Sunny schniefte und sah dann zu mir auf. »Ich weiß nicht, was du meinst.«
»Spricht sie manchmal mit dir? Kannst du manchmal ihre Gedanken wahrnehmen?«
»Die meines ... Körpers? Ihre Gedanken? Sie hat keine. Das bin jetzt ich.«
Ich nickte langsam.
»Ist das schlecht?«, flüsterte Kyle.
»Ich weiß nicht genug darüber, um das beurteilen zu können.
Es ist allerdings wahrscheinlich nicht gut.«
Kyles Augen verengten sich.
»Wie lange bist du schon hier, Sunny?«
Sie runzelte die Stirn und dachte nach. »Wie lange ist es her, Kyle? Fünf Jahre? Sechs? Du warst verschwunden, bevor ich nach Hause kam.«
»Sechs«, sagte er.
»Und wie alt bist du?«, fragte ich sie. »Ich bin siebenundzwanzig.«
Das überraschte mich - sie war so klein, sah so jung aus. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass sie sechs Jahre älter war als Melanie.