»Was spielt das für eine Rolle?«, fragte Kyle.
»Ich bin mir nicht sicher. Es scheint nur so, als hätte man umso bessere Chancen, sich wieder zu ... regenerieren, je länger man ein Mensch war, bevor man eine Seele geworden ist. Je größer der Teil des Lebens ist, den sie als Menschen verbracht haben, je mehr Erinnerungen sie haben, je mehr Verbindungen, je mehr Jahre, während deren sie bei dem richtigen Namen genannt wurden ... Ich weiß es nicht.«
»Sind einundzwanzig Jahre genug?«, fragte er verzweifelt. »Wir werden es herausfinden.«
»Das ist nicht fair!«, heulte Sunny auf. »Warum kannst du hierbleiben? Warum kannst du bleiben und ich nicht?«
Ich musste schlucken. »Nein, das wäre wirklich nicht fair. Aber ich bleibe nicht, Sunny. Ich muss auch gehen. Und zwar bald. Möglicherweise gehen wir zusammen.« Vielleicht war sie glücklicher, wenn sie dachte, ich käme mit ihr zu den Delfinen. Sobald sie es besser wusste, hätte Sunny einen anderen Wirt mit anderen Gefühlen und keine Verbindung mehr zu dem Menschen neben mir. Vielleicht. Und selbst wenn, wäre es dann zu spät. »Ich muss auch gehen, Sunny, genau wie du. Auch ich muss meinen Körper zurückgeben.«
Und dann durchbrach Ians Stimme ungläubig und schroff direkt hinter uns die Stille wie ein Peitschenhieb.
»Was?«
Zusammengeschweisst
Ian starrte so wütend auf uns drei herunter, dass Sunny vor Entsetzen zitterte. Es war komisch - als hätten Kyle und Ian die Gesichter getauscht. Außer dass Ians Gesicht immer noch makellos war heil. Schön, sogar im Zorn.
»Ian?«, fragte Kyle verwirrt. »Was ist das Problem?« »Wanda«, knurrte Ian und streckte seine Hand nach mir aus. Es sah so aus, als fiele es ihm sehr schwer, die Hand nicht zur Faust zu ballen.
Oh-oh, dachte Mel.
Ich fühlte mich ganz elend. Ich hatte mich nicht von Ian verabschieden wollen und jetzt blieb mir nichts anderes übrig. Natürlich nicht. Es wäre nicht richtig, sich wie ein Dieb davonzustehlen und Melanie das Abschiednehmen zu überlassen.
Ian packte mich am Arm und riss mich hoch. Als es so aussah, als würde Sunny mitkommen, die immer noch an mir hing, schüttelte er mich, bis sie von mir abfiel.
»Was ist los mit dir?«, wollte Kyle wissen.
Ian holte mit dem Bein aus und trat Kyle heftig ins Gesicht. »Ian!«, protestierte ich.
Sunny warf sich vor Kyle - der die Hand vor die Nase hielt und sich bemühte, auf die Beine zu kommen - und versuchte ihn mit ihrem winzigen Körper abzuschirmen. Das brachte ihn aus dem Gleichgewicht; er kippte wieder um und stöhnte.
»Komm mit«, fuhr Ian mich an und zog mich, ohne zurückzuschauen, von ihnen weg.
»Ian ...«
Er zerrte mich so grob hinter sich her, dass ich nicht in der Lage war zu sprechen. Das war gut. Ich hatte keine Ahnung, was ich sagen sollte.
Ich sah die erschrockenen Gesichter der anderen verschwommen aufblitzen. Hoffentlich regte all das die namenlose Frau nicht auf. Sie war nicht an Wut und Gewalt gewöhnt.
Und dann blieben wir abrupt stehen. Jared versperrte den Ausgang.
»Hast du den Verstand verloren, Ian?«, fragte er entsetzt. »Was machst du mit ihr?«
»Hast du das gewusst?«, brüllte Ian zurück, wobei er mich nach vorn zog und vor Jared schüttelte. Hinter uns war ein Wimmern zu hören. Er machte ihnen Angst.
»Du tust ihr weh!«
»Weißt du, was sie vorhat?«, schrie Ian.
Jared starrte ihn an, sein Gesicht verschlossen. Er sagte nichts. Das genügte Ian als Antwort.
Ians Faust schlug so schnell zu, dass ich es kaum wahrnahm - ich spürte nur den Ruck, der durch seinen Körper ging, und sah, wie Jared nach hinten in den dunklen Gang taumelte.
»Ian, hör auf«, bat ich.
»Hör du auf«, knurrte er mich an.
Er zerrte mich durch den Bogen in den Gang und zog mich dann in Richtung Norden. Ich musste fast rennen, um mit seinen Schritten mithalten zu können.
»O'Shea!«, rief Jared hinter uns her.
»Ich tu ihr weh?«, brüllte Ian über die Schulter zurück, ohne seinen Schritt zu verlangsamen. »Ich? Du scheinheiliges Schwein!«
Hinter uns war jetzt nichts weiter als Stille und Schwärze. Ich stolperte durch die Dunkelheit und versuchte mit Ian Schritt zu halten.
Erst da begann ich das Pochen von Ians schmerzhaftem Griff wahrzunehmen. Seine Hand war wie ein Druckverband um meinen Oberarm geschlossen, seine langen Finger umfassten ihn mit Leichtigkeit und überlappten sich sogar. Meine Hand wurde langsam taub.
Er zog mich immer schneller hinter sich her und ich stieß ein Stöhnen aus, fast schon einen Schmerzensschrei.
Das Geräusch ließ Ian stehen bleiben. Sein Atem klang heiser in der Dunkelheit.
»Ian, Ian, ich ...« Ich verschluckte den Rest, unfähig den Satz zu beenden. Ich wusste nicht, was ich sagen sollte, und stellte mir sein wütendes Gesicht vor.
Plötzlich hoben mich seine Arme hoch, rissen mir die Füße weg und fingen dann meine Schultern auf, bevor ich hinfallen konnte. Mit mir auf dem Arm rannte er wieder los. Seine Hände waren nicht mehr grob und wütend wie zuvor; er drückte mich schützend an seine Brust.
Er rannte mitten durch die große Halle und kümmerte sich nicht um die überraschten und sogar misstrauischen Gesichter. Es ging im Moment so viel Ungewohntes und Unschönes in den Höhlen vor sich. Die Menschen hier - Violetta, Geoffrey, Andy, Paige, Aaron, Brandt und andere, die ich nicht sehen konnte, als wir vorbeistolperten - waren nervös. Es verunsicherte sie, Ian mit wutverzerrtem Gesicht und mit mir in den Armen geradewegs zwischen ihnen hindurchrennen zu sehen.
Und dann hatten wir sie hinter uns gelassen. Er hielt nicht an, bis wir die Türen erreichten, die vor seinem und Kyles Zimmer lehnten. Er trat die rote zur Seite - sie traf mit einem lauten Knall auf dem Steinboden auf und ließ mich auf die Matratze auf dem Boden fallen.
Ian stand über mir, seine Brust hob und senkte sich vor Anstrengung und Zorn. Für einen Augenblick wandte er sich ab und stellte die Tür mit einem sanften Ruck zurück an ihren Platz; dann funkelte er mich wieder an.
Ich holte tief Luft, kniete mich hin und streckte meine Hände mit den Handflächen nach oben aus, in der Hoffnung, irgendein Zauber würde in ihnen auftauchen. Irgendetwas, das ich ihm geben könnte, irgendetwas, das ich sagen könnte. Aber meine Hände waren leer.
»Du. Wirst. Mich. Nicht. Verlassen.« Seine Augen loderten – sie brannten heller, als ich es je gesehen hatte, wie blaue Flammen.
»Ian«, flüsterte ich. »Du musst doch verstehen, dass ... dass ich nicht bleiben kann. Das musst du doch verstehen.«
»Nein!«, schrie er mich an.
Ich zuckte zurück und unvermittelt fiel Ian vornüber auf die Knie und warf sich auf mich, vergrub sein Gesicht an meinem Bauch und schlang mir die Arme um die Taille. Er bebte - bebte heftig - und laute, verzweifelte Schluchzer brachen aus seiner Brust hervor.
»Nein, Ian, nein«, bat ich. Das hier war noch viel schlimmer als seine Wut. »Bitte nicht. Bitte.« »Wanda«, klagte er. »Ian, bitte. Du darfst nicht so empfinden. Bitte nicht. Es tut mir so leid. Bitte.«
Ich weinte ebenfalls, zitterte ebenfalls, obwohl es auch sein konnte, dass er mich schüttelte.
»Du darfst nicht weggehen.«
»Ich muss, ich muss«, schluchzte ich.
Und eine ganze Weile weinten wir wortlos.
Seine Tränen versiegten früher als meine. Schließlieh richtete er sich auf und zog mich in seine Arme. Er wartete, bis ich wieder sprechen konnte.
»Tut mir leid«, flüsterte er. »Ich war furchtbar zu dir.«
»Nein, nein. Mir tut es leid. Ich hätte es dir sagen müssen, als du nicht selbst darauf gekommen bist. Ich habe nur ... ich konnte es einfach nicht. Ich wollte es dir nicht sagen - dich nicht verletzen - mich nicht verletzen. Das war selbstsüchtig von mir ...«