»Aber Wanda, ich ... es gibt so viel, was ich dir sagen muss.« »Ich will deine Dankbarkeit nicht, Jared. Das kannst du mir glauben.«
»Was willst du dann?«, flüsterte er mit erstickter Stimme.
»Ich würde dir alles geben.«
»Pass auf meine Familie auf. Lass nicht zu, dass die anderen sie umbringen.«
»Natürlich passe ich auf sie auf«, erwiderte er brüsk auf meine Bitte. »Ich meinte dich. Was kann ich dir geben?«
»Ich kann nichts mitnehmen, Jared.«
»Noch nicht einmal eine Erinnerung, Wanda? Was wünschst du dir?«
Mit meiner freien Hand wischte ich mir die Tränen ab, aber es half nicht viel. Zu schnell folgten weitere nach. Nein, ich konnte noch nicht einmal eine Erinnerung mitnehmen.
»Was kann ich dir geben, Wanda?«, beharrte er.
Ich holte tief Luft und versuchte zu vermeiden, dass meine Stimme zitterte.
»Gib mir eine Lüge, Jared. Sag mir, ich soll bleiben.«
Diesmal zögerte er nicht. Er umarmte mich im Dunkeln und hielt mich fest an seine Brust gepresst. Er drückte seine Lippen auf meine Stirn und ich spürte seinen Atem in meinen Haaren, während er sprach.
Melanie hielt in meinem Kopf die Luft an. Sie versuchte sich wieder zu vergraben, versuchte mir für diese letzten Minuten meine Freiheit zu geben. Vielleicht hatte sie auch Angst, diesen Lügen zu lauschen. Sie wollte sich nicht daran erinnern müssen, wenn ich nicht mehr da war.
»Bleib hier, Wanda. Bei uns. Bei mir. Ich will nicht, dass du gehst. Bitte. Ich kann mir ein Leben ohne dich nicht vorstellen. Ich kann es mir einfach nicht vorstellen. Ich weiß nicht, wie ... wie ...« Seine Stimme versagte.
Er war ein sehr guter Lügner. Und er musste sich sehr sicher sein, dass meine Entscheidung unumstößlich war, um all diese Dinge zu sagen.
Ich lehnte mich noch einen Moment an ihn, aber ich konnte spüren, wie mich die Zeit von ihm wegzog. Die Zeit war um. Die Zeit war um.
»Danke«, flüsterte ich und versuchte mich loszumachen. Seine Arme hielten mich fester. »Ich bin noch nicht fertig.«
Unsere Gesichter waren nur Zentimeter voneinander entfernt. Er zog mich noch näher, und sogar hier und jetzt, kurz vor meinem letzten Atemzug auf diesem Planeten, konnte ich mich seinem Sog nicht entziehen. Benzin und offenes Feuer - wir explodierten erneut.
Diesmal war es allerdings nicht dasselbe. Das konnte ich spüren. Diesmal war ich gemeint. Es war mein Name, den er stöhnte, als er diesen Körper umfasst hielt - und er dachte an ihn als an meinen Körper, dachte an mich. Ich konnte den Unterschied spüren. Einen Augenblick lang gab es nur uns beide, nur Wanderer und Jared, und wir brannten.
Es hat nie einen besseren Lügner gegeben als Jared und seinen Körper in meinen letzten Minuten und dafür war ich ihm dankbar. Ich konnte es nicht mitnehmen, da ich nirgendwohin ging, aber es linderte den Abschiedsschmerz ein wenig. Ich konnte der Lüge glauben. Ich konnte ihm glauben, dass er mich so sehr vermissen würde, dass es vielleicht sogar seine Freude trüben könnte. Es war nicht richtig von mir, es mir zu wünschen, aber es fühlte sich trotzdem gut an, es zu glauben.
Ich konnte die Zeit nicht länger ignorieren, die Sekunden, die tickten wie ein Countdown. Sogar in Flammen konnte ich fühlen, wie sie an mir zerrten, mich in den dunklen Gang sogen. Mich von all dieser Hitze und diesen Gefühlen wegzogen.
Es gelang mir, meine Lippen von seinen zu lösen. Wir keuchten in der Dunkelheit, unser Atem fühlte sich warm an auf unseren Gesichtern.
»Danke«.«, sagte ich wieder.
»Warte ...«
»Ich kann nicht. Ich kann nicht ... mehr kann ich nicht ertragen, okay?«
»Okay«, flüsterte er.
»Ich will nur noch eins. Lass es mich alleine tun. Bitte.« »Wenn ... wenn du dir sicher bist, dass du das willst ...« Er brach zögernd ab.
»Ich brauche es, Jared.«
»Dann bleibe ich hier«, flüsterte er.
»Ich sage Doc, er soll dich holen, wenn es vorbei ist.« Er hielt mich immer noch im Arm.
»Du weißt, dass Ian versuchen wird, mich umzubringen, weil ich das zugelassen habe? Vielleicht sollte ich ihn lassen. Und Jamie - er wird keinem von uns je verzeihen.«
»Ich kann jetzt nicht an sie denken. Bitte. Lass mich gehen.« Langsam, mit spürbarem Widerstreben, das die kalte Leere in mir ein wenig wärmte, ließ Jared seine Arme sinken.
»Ich liebe dich, Wanda.«Ich seufzte.
»Danke, Jared. Du weißt, wie sehr ich dich liebe. Von ganzem Herzen.«
Herz und Seele. Was in meinem Fall nicht dasselbe war. Ich war zu lange getrennt gewesen. Es war Zeit, wieder etwas Ganzes zu erschaffen, eine ganze Person. Selbst wenn mich das ausschloss.
Die tickenden Sekunden zogen mich auf das Ende zu. Es war kalt jetzt, wo er mich nicht mehr hielt. Mit jedem Schritt, den ich mich von ihm entfernte, wurde es kälter.
Dabei war immer noch Sommer. Und für mich würde hier immer Sommer sein.
»Was macht ihr hier, wenn es regnet, Jared?«, flüsterte ich.
»Wo schlafen die ganzen Leute?«
Es dauerte eine Weile, bevor er antwortete, und ich hörte, dass er Tränen in der Stimme hatte. »Wir ...«, er schluckte, »wir ziehen in die Sporthalle. Dort schlafen wir alle gemeinsam.«
Ich nickte vor mich hin und fragte mich, was dort wohl für eine Stimmung herrschen würde. Anspannung, mit all den konfliktbeladenen Persönlichkeiten? Oder machte es Spaß? War es mal etwas anderes? Wie eine Pyjamaparty?
»Warum?«, flüsterte er.
»Ich wollte es mir nur ... vorstellen können. Wie es sein wird.« Das Leben und die Liebe würden weitergehen. Auch wenn es ohne mich stattfinden würde, machte mich der Gedanke froh. »Leb wohl, Jared. Mel sagt, bis bald.«
Lügnerin.
»Warte ... Wanda ...«
Ich rannte den Tunnel entlang, rannte vor der Möglichkeit davon, dass er mich mit seinen wunderbaren Lügen vielleicht doch noch davon überzeugen könnte, hierzubleiben. Hinter mir war nur noch Schweigen.
Sein Schmerz bekümmerte mich nicht so wie Ians. Für Jared würde der Schmerz bald vorbei sein. Die Freude war nur Minuten entfernt. Das Happy End.
Der südliche Tunnel schien heute nur ein paar Meter lang zu sein. Viel zu schnell konnte ich die helle Lampe vor mir leuchten sehen und ich wusste, dass Doc auf mich wartete.
Mit hochgezogenen Schultern betrat ich den Raum, der mir immer schon Angst eingeflößt hatte. Doc hatte bereits alles vorbereitet. In der dämmrigsten Ecke konnte ich zwei zusammengeschobene Feldbetten sehen, auf denen Kyle mit einem Arm um Jodis reglose Gestalt schnarchte. Sein anderer Arm umschlang immer noch Sunnys Tiefkühlbehälter. Das hätte ihr gefallen. Ich wünschte, es gäbe eine Möglichkeit, ihr das zu sagen.
»Hey, Doc«, flüsterte ich.
Er sah von dem Tisch auf, auf dem er die Medikamente aufreihte. Bereits jetzt liefen ihm die Tränen übers Gesicht.
Und plötzlich war ich mutig. Mein Herzschlag verlangsamte sich und wurde gleichmäßig. Meine Atmung vertiefte und entspannte sich. Das Schlimmste war überstanden.
Ich hatte das schon einmal gemacht. Schon oft. Ich hatte meine Augen geschlossen und war weggegangen. Ich hatte zwar immer gewusst, dass sich neue Augen öffnen würden, aber trotzdem. Es war mir vertraut. Nichts, wovor ich Angst haben musste.
Ich ging zum Feldbett und setzte mich darauf. Mit ruhigen Händen griff ich nach dem Schmerzlos und schraubte den Deckel ab. Ich legte mir das kleine Quadrat aus Seidenpapier auf die Zunge und ließ es sich auflösen.
Es veränderte sich nichts. Diesmal hatte ich keine Schmerzen.
Keine körperlichen Schmerzen.
»Doc? Wie heißt du eigentlich wirklich?«
Ich wollte vor dem Ende noch all die kleinen Rätsel lösen.
Doc schniefte und wischte sich mit dem Handrücken unter den Augen entlang.
»Eustace. Das ist ein alter Familienname und meine Eltern waren grausame Menschen.«
Ich lachte auf. Dann seufzte ich. »Jared wartet vorne in der großen Höhle. Ich habe ihm versprochen, du würdest ihm Bescheid sagen, wenn es vorbei ist. Aber bitte warte, bis ... bis ich ... aufhöre, mich zu bewegen, okay? Dann wird es zu spät für ihn sein, um noch etwas dagegen unternehmen zu können.«