Ich würde auch nicht länger im Krankenflügel bleiben.
Das entscheidende Gespräch mit Ian hätte vielleicht niemals stattgefunden, wenn Jamie nicht gewesen wäre. Immer wenn ich daran dachte, es anzusprechen, wurde mein Mund ganz trocken und meine Handflächen begannen zu schwitzen. Was, wenn diese Gefühle im Krankenflügel, diese wenigen perfekten Augenblicke der Sicherheit, nachdem ich in diesem Körper aufgewacht war, Einbildung gewesen waren? Was, wenn ich sie falsch in Erinnerung hatte? Ich wusste, dass sich für mich nichts geändert hatte, aber wie konnte ich sicher sein, dass Ian dasselbe fühlte? Der Körper, in den er sich verliebt hatte, war immer noch hier!
Ich ging davon aus, dass er ein bisschen durcheinander war - das waren wir alle. Wenn es schon für mich schwierig war - eine Seele, die an solche Veränderungen gewöhnt war - wie schwer musste es erst für die Menschen sein?
Ich gab mir große Mühe, die letzten Überbleibsel der Eifersucht und des irritierenden Nachhalls der Liebe, die ich immer noch für Jared empfand, hinter mir zu lassen. Ich brauchte und wollte sie nicht. Ian war der Richtige für mich. Aber manchmal ertappte ich mich dabei, wie ich Jared anstarrte,
und war verwirrt. Ich sah, wie Melanie Ians Hand oder Arm berührte und dann zurückzuckte, als fiele ihr plötzlich wieder ein, wer sie war. Sogar Jared, der am wenigsten Grund dazu hatte, unsicher zu sein, begegnete gelegentlich meinen
verwirrten Augen mit einem suchenden Blick. Und Ian ... Für ihn musste es natürlich am schwersten sein. Das konnte ich verstehen.
Wir waren fast so viel zusammen wie Kyle und Sunny. Ian berührte ständig mein Gesicht und meine Haare, hielt meine Hand. Aber wer reagierte auf diesen Körper nicht so? Und war es nicht auch für alle anderen rein platonisch? Warum küsste er mich nicht mehr, so wie am ersten Tag?
Vielleicht würde er mich in diesem Körper nie lieben können, egal, wie attraktiv er den anderen Menschen hier vorkam.
Diese Sorge lastete schwer auf mir, als Ian in jener Nacht mein Feldbett - weil es mir zu schwer war - in die große, dunkle Sporthalle getragen hatte.
Zum ersten Mal seit über sechs Monaten regnete es. Die Leute lachten und meckerten, als sie ihr feuchtes Bettzeug
ausschüttelten und sich häuslich einrichteten.
»Hier rüber, Wanda«, rief Jamie und winkte mich zu sich. Er hatte gerade seine Matratze neben Ians gelegt. »Hier passen wir jetzt alle drei hin.«
Jamie war der Einzige, der mich fast genauso behandelte wie vorher. Mein zierliches Äußeres machte einen gewissen
Unterschied, aber er schien nie überrascht, wenn ich einen Raum betrat, oder erschrocken, wenn Wanderers Worte über diese Lippen kamen.
»Du willst nicht im Ernst auf diesem Feldbett schlafen, oder, Wanda? Ich bin sicher, wir passen alle bequem auf die beiden Matratzen, wenn wir sie zusammenschieben.« Jamie grinste mich an, während er die eine Matratze mit dem Fuß an die andere kickte, ohne auf meine Zustimmung zu warten. »Du nimmst ja nicht so viel Platz weg.«
Er nahm Ian das Feldbett ab und stellte es zur Seite. Dann streckte er sich ganz am Rand der hinteren Matratze aus und kehrte uns den Rücken zu.
»Oh, übrigens, Ian«, fugte er hinzu, ohne sich umzudrehen. »Ich habe mit Brandt und Aaron gesprochen und ich glaube, ich werde bei ihnen einziehen. Okay, ich bin völlig fertig. Nacht, Leute.«
Ich starrte Jamies regungslose Gestalt eine ganze Weile lang an. Ian rührte sich genauso wenig. Er hatte wohl kaum ebenfalls eine Panikattacke. Überlegte er, wie er sich aus der Affäre ziehen konnte?
»Licht aus«, bellte Jeb vom anderen Ende des Raumes her. »Haltet endlich mal die Klappe, damit ich die Augen zuklappen kann und 'ne Mütze voll Schlaf kriege.«
Die Leute lachten, aber nahmen ihn wie immer ernst. Nach und nach gingen die vier Lampen aus, bis der Raum im Dunkeln lag. Ians Hand tastete nach meiner; sie fühlte sich warm an.
Merkte er, wie kalt und verschwitzt meine Haut war?
Er kniete sich auf die Matratze und zog mich sachte mit sich. Ich folgte ihm und legte mich in die Ritze zwischen den beiden Matratzen. Er hielt weiter meine Hand.
»Ist das okay so?«, wisperte Ian. Um uns herum wurden noch andere Gespräche im Flüsterton geführt, von denen man beim Rauschen der Schwefelquelle allerdings nichts verstehen konnte.
»Ja, danke«, antwortete ich.
Jamie rollte sich herum, wobei die Matratze wackelte, und stieß gegen mich. »Ups, 'tschuldigung, Wanda«, murmelte er und dann hörte ich ihn gähnen.
Automatisch machte ich ihm Platz. Ian lag näher, als ich gedacht hatte; ich keuchte leise, als ich gegen ihn stieß, und versuchte wieder von ihm abzurücken. Plötzlich hatte er seinen Arm um mich gelegt und mich an sich gezogen.
Es war ein überaus seltsames Gefühl - von Ian auf diese völlig unplatonische Art umarmt zu werden, erinnerte mich komischerweise an meine erste Erfahrung mit dem Schmerzlos. Als hätte ich, ohne es zu wissen, Qualen ausgestanden und seine Berührung hätte all meinen Schmerz gelindert.
Dieses Gefühl vertrieb meine Schüchternheit. Ich drehte mich zu ihm um und er zog mich noch fester an sich.
»Ist das okay so?«, flüsterte ich und wiederholte damit seine Frage.
Er küsste mich auf die Stirn. »Mehr als nur okay.«
Wir schwiegen ein paar Minuten lang. Die meisten anderen Gespräche waren verstummt.
Er neigte den Kopf zu mir, so dass seine Lippen direkt neben meinem Ohr waren, und flüsterte leiser als vorher. »Wanda, glaubst du ...?« Er verstummte.
»Ja?«
»Na ja, es sieht so aus, als hätte ich jetzt ein Zimmer für mich allein. Das ist nicht in Ordnung.«
»Nein. Es ist nicht genug Platz in den Höhlen, dass du allein bleiben könntest.«
»Ich will auch nicht allein bleiben. Aber ...« Warum fragte er nicht? »Aber was?«
»Hattest du inzwischen genug Zeit, um die Dinge für dich zu klären? Ich will dich nicht drängen. Ich weiß, dass das alles verwirrend für dich ist ... mit Jared ...«
Ich brauchte einen Moment, bis ich begriff, was er da sagte, aber dann kicherte ich leise. Melanie hatte nie viel gekichert, aber Pet schon und ihr Körper überrumpelte mich in diesem höchst unpassenden Augenblick.
»Was?«, wollte er wissen.
»Ich habe dir Zeit gelassen, um die Dinge für dich zu klären«, erklärte ich ihm flüsternd. Ich wollte dich nicht drängen - weil ich weiß, dass das alles verwirrend für dich ist. Mit Melanie.«
Er fuhr vor Überraschung zusammen. »Du dachtest ...? Aber Melanie ist nicht du. Ich war überhaupt nicht verwirrt.«
Jetzt lächelte ich im Dunkeln. »Und Jared ist nicht du.«
Er antwortete mit belegter Stimme. »Aber er ist immer noch Jared. Und du liebst ihn.«
War Ian wieder eifersüchtig? Ich sollte mich nicht über negative Gefühle freuen, aber ich musste zugeben, dass mir das Mut machte.
»Jared ist meine Vergangenheit, ein anderes Leben. Du bist die Gegenwart.«
Er schwieg einen Moment. Als er wieder sprach, war seine Stimme ganz heiser, so bewegt war er. »Und deine Zukunft, wenn du willst.«
»Ja, das will ich.«
Und dann küsste er mich auf die unplatonischste Weise, die umgeben von so vielen Menschen nur möglich war, und ich war überglücklich, dass ich klug genug gewesen war, ein falsches Alter anzugeben.
Der Regen würde irgendwann aufhören und dann würden Ian und ich zusammen sein, ein echtes Paar. Das war ein Versprechen und eine Verpflichtung, die ich in all meinen Leben noch nicht eingegangen war. Beim Gedanken daran war ich glücklich und ängstlich und schüchtern und unwahrscheinlich ungeduldig gleichzeitig - wie ein Mensch ...