Nachdem all das geklärt war, waren Ian und ich noch unzertrennlicher als vorher. Und als es Zeit wurde, dass ich mein neues Gesicht an den anderen Seelen ausprobierte, kam er natürlich mit.
Diese Beutetour würde eine Erleichterung für mich sein nach all den Wochen der Frustration. Es war schlimm genug, dass mein neuer Körper schwach und in den Höhlen beinahe nutzlos war; aber ich konnte es kaum glauben, als die anderen nicht zulassen wollten, dass ich meinen Körper für die einzige Sache, für die er perfekt geeignet war, einsetzte.
Jared hatte Jamies Wahl explizit gutgeheißen, und zwar gerade wegen dieses unschuldigen, verletzlichen Gesichts, das niemand je anzweifeln konnte, und dieser fragilen Statur, die jeder versuchen würde zu beschützen - aber selbst er hatte Probleme damit, seine Theorie in die Praxis umzusetzen. Ich war sicher, dass mir eine Tour genauso leichtfallen würde wie vorher, aber Jared, Jeb, Ian und die anderen - alle außer Jamie und Mel - debattierten tagelang darüber und versuchten einen Weg zu finden, um mich davon auszuschließen. Es war lächerlich.
Ich sah, wie sie Sunny beäugten, aber sie hatte sich noch nicht bewiesen, sie konnten ihr nicht bedingungslos vertrauen. Außerdem hatte Sunny nicht die geringste Absicht, einen Fuß vor die Tür zu setzen. Schon allein beim Wort Beutetour duckte sie sich entsetzt. Kyle würde uns nicht begleiten; als er einmal auch nur davon gesprochen hatte, war Sunny total hysterisch geworden.
Am Ende siegten praktische Gründe. Ich wurde gebraucht.
Es war gut, gebraucht zu werden.
Die Vorräte waren deutlich geschrumpft; es würde ein langer Trip werden. Jared führte die Tour wie üblich an, daher war klar, dass auch Melanie mit von der Partie war. Aaron und Brandt meldeten sich freiwillig. Nicht, dass sie wirklich gebraucht wurden, aber sie waren es leid, eingesperrt zu sein.
Wie würden weit nach Norden fahren und ich war ganz aufgeregt bei dem Gedanken, so viel Neues zu sehen - und wieder Kälte zu spüren.
Wenn ich aufgeregt war, geriet dieser Körper leicht außer Kontrolle. Ich war ganz aufgekratzt und hibbelig, als wir durch die Nacht zum Steinschlag fuhren, wo der Lieferwagen und der Umzugslaster versteckt waren. Ian lachte über mich, weil ich kaum stillhalten konnte, als wir die Kleider und alles, was wir sonst brauchen würden, in den Lieferwagen packten. Er hielt meine Hand, um mich an der Erdoberfläche zu verankern, wie er sagte.
War ich zu laut gewesen? Hatte ich zu wenig auf die Umgebung geachtet? Nein, das war es natürlich nicht. Ich hätte nichts tun können. Das hier war eine Falle und in dem Moment, als wir hier eintrafen, war es bereits zu spät für uns.
Wir erstarrten, als die schmalen Lichtkegel aus der Dunkelheit hervorschossen und Jared und Melanie ins Gesicht leuchteten. Mein Gesicht, meine Augen, die uns vielleicht hätten helfen können, blieben im Dunkeln, verborgen in dem Schatten, den Ians breiter Rücken warf.
Ich wurde von dem Strahl nicht geblendet und der Mond schien hell genug, dass ich die Sucher, die in der Überzahl waren - acht gegen uns sechs -, deutlich sehen konnte. Hell genug, dass ich ihre Hände sehen konnte, in denen Waffen glitzerten, die sie auf uns gerichtet hatten. Auf Jared und Mel, auf Brandt und Aaron - der unser einziges Gewehr noch gar nicht gezückt hatte - und einer zielte mitten auf Ians Brust.
Warum hatte ich ihn mitkommen lassen? Warum musste auch er sterben? Lilys fassungslose Frage hallte in meinem Kopf wider: Warum gingen das Leben und die Liebe weiter? Was hatte das für einen Sinn?
Mein zerbrechliches kleines Herz zersprang in eine Million Stücke und ich tastete nach der Kapsel in meiner Tasche.
»Ganz ruhig, Leute, keine Panik«, rief der Mann in der Mitte der Suchergruppe. »Wartet, wartet, schluckt bloß nichts! Verdammt, jetzt wartet doch! Seht mich an!«
Der Mann richtete die Taschenlampe auf sein eigenes Gesicht. Es war sonnengebräunt und zerfurcht, wie ein zerklüfteter Felsen. Sein Haar war dunkel mit weißen Schläfen und lockte sich in einem buschigen Durcheinander über seinen Ohren. Und seine Augen - seine Augen waren dunkelbraun. Einfach nur dunkelbraun, sonst nichts.
»Seht ihr?«, sagte er. »Also, ihr erschießt uns nicht und wir erschießen euch nicht, okay?« Er legte die Waffe, die er in der Hand hielt, auf den Boden. »Los, Leute«, sagte er und die anderen steckten ihre Waffen zurück in die Halfter - an ihren Hüften, ihren Knöcheln, ihren Rücken ... so viele Waffen.
»Als wir euer Versteck hier entdeckt haben - verdammt gerissen, es war nicht leicht zu finden - haben wir beschlossen, auf euch zu warten, um eure Bekanntschaft zu machen. Man trifft schließlich nicht jeden Tag auf eine andere Widerstandszelle.« Er stieß ein fröhliches Lachen aus, das tief aus seinem Bauch kam. »Ihr solltet mal eure Gesichter sehen! Was ist? Dachtet ihr etwa, ihr wärt die Einzigen, die hier noch herumspringen?« Er lachte erneut.
Niemand von uns hatte sich von der Stelle gerührt.
»Ich glaube, sie stehen unter Schock, Nate«, sagte ein anderer Mann.
»Was erwartet ihr?«, fragte eine Frau. »Wir haben sie schließlich halb zu Tode erschreckt.«
Sie warteten, traten von einem Fuß auf den anderen, während wir stocksteif dastanden.
Jared war der Erste, der sich von dem Schreck erholt hatte.
»Wer zum Teufel seid ihr?«, flüsterte er.
Der Anführer lachte wieder. »Ich bin Nate - schön, euch zu treffen, auch wenn ihr vielleicht gerade noch nicht dasselbe empfindet. Das hier sind Rob, Evan, Blake, Tom, Kim und Rachel.« Er wies auf die Mitglieder seiner Gruppe und die Menschen nickten jeweils, wenn ihr Name genannt wurde. Ich bemerkte einen Mann, der etwas weiter hinten stand und den Nate nicht vorstellte. Er hatte einen rötlichen Krauskopf, der auffiel - vor allem, da er der Größte der Gruppe war -, und er war der Einzige, der unbewaffnet zu sein schien. Er starrte mich ebenfalls durchdringend an, so dass ich den Blick abwandte. »Insgesamt sind wir allerdings dreiundzwanzig«, fuhr Nate fort.
Er streckte die Hand aus.
Jared holte tief Luft und machte dann einen Schritt nach vorn.
Bei seiner Bewegung atmeten wir anderen alle gleichzeitig leise aus.
»Ich bin Jared.« Er schüttelte Nate die Hand und lächelte. »Das hier sind Melanie, Aaron, Brandt, Ian und Wanda. Wir sind insgesamt siebenunddreißig.«
Als Jared meinen Namen nannte, verlagerte Ian sein Gewicht und versuchte mich komplett vor den anderen Menschen zu verbergen. Erst da wurde mir bewusst, dass ich immer noch genauso in Gefahr war, wie die anderen es gewesen wären, wenn es sich bei der Gruppe wirklich um Sucher gehandelt hätte. Genau wie am Anfang. Ich versuchte, mich nicht zu bewegen.
Bei Jareds Worten blinzelte Nate, dann wurden seine Augen groß. »Donnerwetter. Das ist das erste Mal, dass ich in dieser Hinsicht übertroffen werde.«
Jetzt blinzelte Jared. »Ihr seid schon anderen begegnet?«, stieß er hervor.
»Wir wissen von drei weiteren unabhängigen Zellen. Elf bei Gail, sieben bei Russell und achtzehn bei Max. Wir halten Kontakt. Treiben gelegentlich sogar Handel.« Wieder das Bauchgelächter. »Gails kleine Ellen hat beschlossen, dass sie gern meinem Evan hier Gesellschaft leisten würde, und Carlos hat sich mit Russells Cindy zusammengetan. Und natürlich brauchen alle ab und zu Burns ...« Er hielt abrupt inne und sah sich unbehaglich um, als hätte er das nicht sagen sollen. Sein Blick blieb kurz an dem großen Rotschopf im Hintergrund hängen, der mich immer noch ansah.