Ich hatte mich nicht vom Fleck gerührt oder auch nur mit dem kleinsten Muskel gezuckt. Die Sucherin beugte sich zu mir vor und stellte sich auf die Zehenspitzen, um ihr Gesicht näher an meins heranzubringen. Ihre Stimme wurde leise und sanft in dem Versuch, überzeugend zu klingen.
»Ist es das, was Sie wollen, Wanderer? Verlieren? Verblassen? Von einem anderen Bewusstsein ausgelöscht werden? Nichts weiter sein als ein Wirtskörper?«
Ich konnte kaum atmen.
»Es wird sich immer weiter verschlimmern. Sie werden nicht mehr Sie selbst sein. Melanie wird Sie besiegen und Sie werden verschwinden. Vielleicht greift jemand ein ... vielleicht werden Sie verpflanzt so wie Kevin. Und Sie werden zu einem Kind namens Melanie, das lieber an Autos herumbastelt, als Musikstücke zu komponieren. Oder was auch immer sie gerne tut.«
»Die Erfolgsquote beträgt weniger als zwanzig Prozent?«, flüsterte ich.
Sie nickte und versuchte ein Lächeln zu unterdrücken. »Sie geben sich selbst auf, Wanderer. All die Welten, die Sie gesehen haben, all die Erfahrungen, die Sie gesammelt haben - all das wird umsonst gewesen sein. Ich habe in Ihrer Akte gelesen, dass Sie das Potenzial zur Mutterschaft haben. Wenn Sie sich als Mutter zur Verfügung stellen, wäre all das wenigstens nicht komplett verloren. Warum wollen Sie sich wegwerfen? Haben Sie das mit der Mutterschaft mal in Betracht gezogen?«
Ich zuckte zurück und wurde rot.
»Tut mir leid«, murmelte sie, während ihr Gesicht sich ebenfalls verfärbte. »Das war unhöflich. Vergessen Sie, was ich gesagt habe.«
»Ich gehe jetzt nach Hause und möchte nicht, dass Sie mir folgen.«
»Das muss ich aber, Wanderer. Das ist mein Job.«
»Was kümmern Sie eigentlich die paar Menschen, die noch übrig sind? Womit rechtfertigen Sie Ihren Job überhaupt noch? Wir haben gewonnen! Es wird Zeit, dass Sie sich endlich in die Gesellschaft eingliedern und etwas Produktives beisteuern!«
Meine Fragen, meine impliziten Anschuldigungen, ließen sie kalt.
»Wo auch immer ihre Welt auf unsere trifft, lauert der Tod.« Sie sagte das ganz ruhig und einen Moment lang sah ich eine andere Person in ihrem Gesicht. Es überraschte mich, dass sie von ganzem Herzen an das glaubte, was sie tat. Ein Teil von mir hätte gern angenommen, dass sie sich nur fürs Suchen entschieden hatte, weil sie sich heimlich nach Gewalt sehnte. »Wenn wir auch nur eine Seele an Ihren Jared oder Jamie verlieren, ist das eine Seele zu viel. Solange auf diesem Planeten noch kein uneingeschränkter Frieden herrscht, ist meine Arbeit gerechtfertigt. Solange noch Jareds leben, werde ich gebraucht, um unsere Art zu beschützen. Solange es noch Melanies gibt, die Seelen an der Nase herumführen ...«
Ich kehrte ihr den Rücken zu und machte mich mit großen Schritten auf den Weg zu meiner Wohnung, wodurch sie gezwungen war zu rennen, wenn sie mit mir Schritt halten wollte.
»Geben Sie sich nicht auf, Wanderer!«, rief sie hinter mir her. »Die Zeit läuft Ihnen davon!« Sie machte eine Pause, bevor sie noch lauter rief: »Lassen Sie es mich wissen, wenn ich anfangen soll, Sie Melanie zu nennen!«
Ihre Stimme wurde leiser, je größer der Abstand zwischen uns wurde. Ich wusste, sie würde mir in ihrem eigenen Tempo folgen.
Die fürchterliche vergangene Woche - in der mir ihr Gesicht aus den hinteren Reihen jedes Hörsaals entgegengeblickt und ich täglich ihre Schritte hinter mir auf dem Bürgersteig gehört hatte -war noch gar nichts verglichen mit dem, was mir noch bevorstand. Sie würde mir das Leben zur Hölle machen.
Ich spürte, wie Melanie heftig von innen gegen meinen Schädel stieß.
Sorg dafür, dass sie rausfliegt. Erzähl ihren Vorgesetzten, dass sie irgendwas Unverzeihliches getan hat. Uns angegriffen hat. Unser Wort steht gegen ihrs ...
In der Menschenwelt vielleicht, erinnerte ich sie, beinahe traurig darüber, dass mir solche Mittel nicht zur Verfügung standen. Bei uns gibt es keine Vorgesetzten in dem Sinne. Wir arbeiten alle gleichberechtigt nebeneinander. Es gibt einige, bei denen die Informationen zusammenlaufen, und Räte, die anhand dieser Informationen Entscheidungen treffen, aber sie werden sie nicht von einer Aufgabe abziehen, um die sie gebeten hat. Weißt du, es funktioniert wie ...
Wen interessiert, wie es funktioniert, wenn es uns nicht weiterhilft'? Jetzt weiß ich's - wir bringen sie um! Unvermittelt tauchte das Bild in meinem Kopf auf, wie sich meine Hände um den Hals der Sucherin schlossen.
Genau deswegen ist es besser, dass meine Spezies hier das Sagen hat.
Komm endlich von deinem hohen Ross runter. Du würdest es doch genauso gerne tun wie ich. Das Bild kehrte zurück, das Gesicht der Sucherin lief in unserer Einbildung blau an, aber diesmal wurde diese Vision von einer heftigen Welle der Freude begleitet.
Das bist du, nicht ich. Das stimmte zwar, das Bild verursachte mir Übelkeit. Aber gleichzeitig stimmte es auch nicht, denn am liebsten hätte ich die Sucherin nie wieder gesehen.
Was machen wir jetzt? Ich gebe nicht auf. Du gibst nicht auf. Und diese verdammte Sucherin wird schon gar nicht aufgeben!