Sie holte mich zurück in die Gegenwart - zum dünnen Band des Highways, der sich in der erbarmungslosen Mittagssonne durch die Ödnis Arizonas wand - ohne dass ich darum gebeten hatte. Ich starrte in die Leere vor mir und spürte die Leere in meinem Innern.
In meinem Kopf war ein schwaches Seufzen zu vernehmen: Du weißt nie, wie viel Zeit dir noch bleibt.
Die Tränen, die ich vergoss, waren von uns beiden.
Entdeckt
Ich fuhr zügig auf die I-10, als die Sonne hinter mir langsam zu sinken begann. Ich nahm nicht mehr viel wahr außer den weißen und gelben Linien auf dem Asphalt und den vereinzelten grünen Schildern, die mich weiter nach Osten wiesen. Jetzt hatte ich es eilig.
Weshalb, wusste ich allerdings gar nicht genau. Um hier herauszukommen, nahm ich an. Aus diesem Schmerz, aus der Verzweiflung, aus der Trauer um eine verlorene und hoffnungslose Liebe. Hieß das auch, aus diesem Körper? Mir fiel keine andere Lösung ein. Ich würde dem Heiler auf jeden Fall zuerst all meine Fragen stellen, aber ich hatte das Gefühl, als wäre der Entschluss bereits gefasst. Springer. Drückeberger. Ich sprach die Wörter in meinem Kopf vor mich hin und versuchte, mich damit anzufreunden.
Ich wollte versuchen zu verhindern, dass Melanie der Sucherin in die Hände fiel. Es würde sehr schwer werden. Wahrscheinlich sogar unmöglich.
Ich würde es trotzdem versuchen.
Ich versprach es ihr, aber sie hörte mir nicht zu. Sie träumte immer noch. Gab auf, nahm ich an - jetzt, wo es zu spät dafür war, sich helfen zu lassen.
Ich versuchte, mich von dem roten Canyon in ihrem Kopf fern- zuhalten, aber ich war mit ihr dort. Egal, wie sehr ich mich an- strengte, den Autos zuzusehen, die an mir vorbeizogen, den Raum- schiffen, die auf das Raumfahrtzentrum zuhielten, den wenigen dünnen Wolken, die über mir dahinschwebten, es gelang mir nicht, mich gänzlich aus ihren Träumen zu befreien. Ich erinnerte mich an Jareds Gesicht aus tausend verschiedenen Blickwinkeln. Ich sah, wie Jamie in einem plötzlichen Wachstumsschub in die Höhe schoss, noch immer nur Haut und Knochen. Meine Arme schmerzten vor Sehnsucht nach den beiden - das Gefühl war stärker als Schmerz, messerscharf und gewaltig. Es war unerträglich. Ich musste hier raus.
Fast blind fuhr ich den schmalen zweispurigen Highway entlang. Die Wüste war hier sogar noch eintöniger und karger als vorher. Fader, farbloser. Ich würde lange vor dem Abendessen in Tucson eintreffen. Abendessen. Ich hatte den ganzen Tag noch nichts gegessen und mein Magen knurrte, als ich daran dachte.
In Tucson würde mich die Sucherin erwarten. Mir drehte sich der Magen um, der Hunger wurde vorübergehend von Übelkeit verdrängt. Automatisch nahm ich den Fuß vom Gas.
Ich warf einen Blick auf die Karte, die auf dem Beifahrersitz lag. Bald würde ich eine kleine Raststätte in einem Ort namens Picacho Peak erreichen. Vielleicht würde ich dort anhalten, um etwas zu essen. Um das Wiedersehen mit der Sucherin noch ein paar kostbare Momente hinauszuzögern.
Als ich an diesen mir fremden Namen dachte - Picacho Peak -, bemerkte ich eine eigenartige, verhaltene Reaktion bei Melanie. Es war mir nicht klar, was das zu bedeuten hatte. War sie schon mal hier gewesen? Ich suchte nach einer Erinnerung, einem Bild oder Geruch, der hierhergehörte, konnte aber nichts entdecken. Picacho Peak. Wieder blitzte eine Spur Interesse auf, das Melanie schnell unterdrückte. Welche Bedeutung hatte der Name für sie? Sie zog sich in weit entfernte Erinnerungen zurück, um mir auszuweichen.
Das machte mich neugierig. Ich fuhr wieder schneller, um zu sehen, ob der Anblick des Ortes vielleicht irgendetwas auslöste.
Ein einzelner Berg - der eigentlich gar nicht besonders groß war, aber die niedrigen, zerklüfteten Gipfel vor ihm deutlich überragte -begann sich vor dem Horizont abzuzeichnen. Er hatte eine ungewöhnliche, charakteristische Form. Melanie
beobachtete, wie er größer wurde, je näher wir kamen, und tat so, als wäre er ihr gleichgültig.
Warum gab sie vor, sich nicht dafür zu interessieren, obwohl das doch ganz offensichtlich der Fall war? Die Stärke, die sie aufbrachte, als ich versuchte, es herauszufinden, verwirrte mich. Ich fand keinen Weg um die altbekannte Mauer herum. Sie fühlte sich sogar noch dicker an als sonst, obwohl ich gedacht hatte, sie wäre fast verschwunden.
Ich versuchte Melanie zu ignorieren, da ich nicht darüber nachdenken wollte, dass sie stärker wurde. Ich betrachtete stattdessen die Umrisse des Berges vor dem bleichen, heißen Himmel. Irgendetwas daran kam mir bekannt vor. Irgendetwas, von dem ich sicher war, es wiederzuerkennen, auch wenn ich genau wusste, dass keine von uns jemals hier gewesen war.
Fast so, als versuchte sie mich abzulenken, tauchte Melanie in eine lebhafte Erinnerung an Jared ein und traf mich völlig unvorbereitet.
Ich fröstele in meiner Jacke und blicke mit zusammengekniffenen Augen in das gedämpfte Sonnenlicht, das langsam hinter den dichten, stacheligen Bäumen verschwindet. Ich versuche mir einzureden, dass es nicht so kalt ist, wie es mir vorkommt. Mein Körper ist nur nicht daran gewöhnt.
Die Hände, die sich plötzlich auf meine Schultern legen, erschrecken mich nicht, obwohl ich Angst vor diesem unbekannten Ort habe und nicht gehört habe, wie Jared sich mir leise genähert hat. Ihr Gewicht ist zu vertraut.
»Man kann sich ganz schön leicht an dich anschleichen.« Sogar jetzt schwingt ein Lächeln in seiner Stimme mit. »Ich habe dich kommen sehen, bevor du den ersten Schritt getan hast«, sage ich, ohne mich umzudrehen. »Ich habe Augen im Hinterkopf.«
Warme Finger streicheln mein Gesicht von der Schläfe bis zum Kinn und überziehen meine Haut mit Feuer.
»Du siehst aus wie eine Waldnymphe, die sich hier zwischen den Bäumen versteckt hat«, flüstert er mir ins Ohr. »Eine von ihnen. So schön, dass du ein Phantasiegeschöpf sein musst.«
»Wir sollten mehr Bäume um die Hütte herum pflanzen.«
Er gluckst und bei dem Geräusch schließe ich die Augen und verziehe meinen Mund zu einem Lächeln.
»Nicht nötig«, sagt er. »Du siehst immer so aus.«
»Sagt der letzte Mann auf der Welt zur letzten Frau auf der Welt am Vorabend ihrer Trennung.«
Mein Lächeln schwindet, während ich das sage. In diesen Zeiten hält ein Lächeln nicht lang.
Er seufzt. Sein Atem auf meiner Wange ist kühl verglichen mit der glühenden Wüstenluft.
»Ich weiß nicht, ob Jamie dir da zustimmen würde.«
»Jamie ist ein kleiner Junge. Bitte, bitte, pass gut auf ihn auf.« »Ich mache dir einen Vorschlag«, bietet Jared an. »Du passt gut auf dich auf und ich tu, was ich kann. Sonst werden wir uns nicht einig.«
Nur ein Witz, aber ich kann ihn nicht mit Humor nehmen. Sobald wir getrennt sind, ist nichts mehr sicher.
»Egal, was passiert«, beharre ich.
»Es wird nichts passieren. Mach dir keine Sorgen.« Die Wörter sind fast bedeutungslos für mich. Leere Beteuerungen. Aber es ist schön, seine Stimme zu hören, egal, was er sagt.
»Einverstanden.«
Er dreht mich zu sich um und ich lehne meinen Kopf an seine Brust. Ich weiß nicht, womit ich seinen Geruch vergleichen könnte. Es ist ein ganz eigener Geruch - genauso einzigartig wie der von Wacholder oder Wüsten regen.
»Du und ich, wir werden uns nicht verlieren«, verspricht er. »Ich werde dich immer wiederfinden.« Typisch Jared. Er kann nicht länger als einen oder zwei Herzschläge lang völlig ernst bleiben. »Egal, wie gut du dich versteckst. Ich bin unschlagbar im Versteckspielen.«
»Zählst du bis zehn?«
»Ohne zu gucken.«
»Du bist dran«, murmele ich und versuche zu überspielen, dass meine Stimme tränenschwer klingt.