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»Hab keine Angst. Du schaffst das schon. Du bist stark, du bist schnell und du bist schlau.« Er versucht auch sich selbst davon zu überzeugen.

Warum verlasse ich ihn überhaupt? Es ist dermaßen unwahrscheinlich, dass Sharon noch ein Mensch ist.

Aber als ich ihr Gesicht in den Nachrichten gesehen habe, war ich mir so sicher.

Es war eine ganz normale Beutetour, eine von tausend. Wie immer, wenn wir uns abgeschieden genug, sicher genug fühlten, hatten wir den Fernseher laufen, während wir die Vorratskammer und den Kühlschrank leer räumten. Nur wegen der Wettervorhersage; der todlangweilige Alles-ist-in-bester-Ordnung- Bericht, den die Parasiten für Nachrichten halten, war nicht besonders unterhaltsam.

Es waren die Haare, die meine Aufmerksamkeit erregten, das Aufblitzen dieses kräftigen, fast pinkfarbenen Rots, das ich nur von einer Person kenne. Ich sehe immer noch ihren Gesichtsausdruck vor mir, als sie aus den Augenwinkeln in die Kamera schaute. Diesen Blick, der besagte: Ich versuche, mich unsichtbar zu machen, bitte nimm mich nicht wahr. Sie ging nicht langsam genug, bemühte sich zu angestrengt um ein schlenderndes Schritttempo. Versuchte verzweifelt, nicht aufzufallen. Keiner der Bodysnatcher hätte je dieses Bedürfnis.

Wieso läuft Sharon als Mensch in einer riesigen Stadt wie Chicago herum? Suchen sie noch andere? Eigentlich habe ich gar keine Wahl. Wenn nur die geringste Möglichkeit besteht, dass es noch mehr Menschen da draußen gibt, müssen wir sie finden. Und ich muss allein los. Sharon wird vor jedem außer mir davonlaufen - sie wird auch vor mir davonlaufen, aber vielleicht hält sie lange genug inne, dass ich es ihr erklären kann. Ich bin sicher, dass ich ihr Versteck kenne.

»Und du?«, frage ich ihn mit belegter Stimme. Ich ertrage diese bevorstehende Trennung einfach nicht. »Wirst du hier sicher sein?«

»Weder Himmel noch Hölle können mich von dir fernhalten, Melanie.«

Ohne mir Gelegenheit zu geben, durchzuatmen oder die neuen Tränen abzuwischen, feuerte sie die nächste Erinnerung auf mich ab.

Jamie rollt sich in meinem Arm zusammen - er passt nicht mehr so gut hinein wie früher. Er muss sich richtig zusammenfalten und trotzdem ragen überall seine langen, schlaksigen Gliedmaßen hervor. Seine Arme werden langsam fest und sehnig, aber in diesem Augenblick ist er ein Kind, er zittert, bebt beinahe. Jared belädt den Jeep. Wenn er hier wäre, würde Jamie seine Furcht nicht zeigen. Jamie möchte gern mutig sein, so sein wie Jared. »Ich habe Angst«, flüstert er.

Ich drücke einen Kuss auf sein tiefschwarzes Haar. Sogar hier, zwischen den harzigen Bäumen, riecht es nach Staub und Sonne. Es fühlt sich an, als wäre er ein Teil von mir, als würde die Trennung von ihm die Haut zerreißen, die uns verbindet.

»Bei Jared bist du sicher.« Ich muss stark sein, egal ob ich mich so fühle oder nicht.

»Das weiß ich. Ich habe Angst um dich. Ich habe Angst, dass du nicht wiederkommst. So wie Dad.«

Ich zucke zusammen. Als Dad nicht wiederkam - obwohl sein Körper das sehr wohl tat, um die Sucher zu uns zu führen -, war ich von Entsetzen, Angst und Schmerz überwältigt. Was, wenn ich Jamie dasselbe noch einmal antun würde?

»Ich werde aber wiederkommen. Ich komme immer wieder.«

»Ich habe Angst«, sagt er noch einmal. Ich muss stark sein.

»Ich verspreche dir, dass alles gut wird. Ich werde wiederkommen. Ich verspreche es dir. Du weißt, dass ich immer halte, was ich verspreche, Jamie. Besonders dir gegenüber.« Das Zittern lässt nach. Er glaubt mir. Er vertraut mir.

Und noch eine:

Ich kann sie im Stockwerk unter mir hören. Sie werden mich in ein paar Minuten oder Sekunden gefunden haben. Ich kritzele die Wör- ter auf einen dreckigen Fetzen Zeitungspapier. Sie sind fast unlesbar, aber wenn er sie findet, wird er verstehen: Nicht schnell genug. Liebe Dich, liebe Jamie. Geht nicht nach Hause. Ich breche nicht nur ihre Herzen, ich stehle ihnen auch den Schutz ihres Zuhauses. Ich stelle mir unser kleines Canyon-Heim verlassen vor, so, wie es von jetzt an immer sein wird. Verlassen oder ein Grab. Ich sehe, wie mein Körper die Sucher zu ihnen führt. Mein eigenes lä- chelndes Gesicht, als wir sie dort ergreifen ...

»Es reicht«, sagte ich laut und duckte mich vor dem Schmerz, der mich wie ein Peitschenhieb traf. »Es reicht! Du hast dein Ziel erreicht! Ich kann jetzt auch nicht mehr ohne sie leben. Macht dich das glücklich? Weil es mir nämlich nicht viele Alternativen lässt. Nur eine - dich loszuwerden. Willst du unbedingt die Sucherin in dir haben?« Ich zuckte vor dem Gedanken zurück, als wäre ich diejenige, die sie beherbergen müsste.

Es gibt noch eine andere Alternative, dachte Melanie sanft.

»Wirklich?«, fragte ich überaus sarkastisch. »Dann lass mal hören.«

Sieh genau hin.

Ich blickte immer noch den Berg an. Er dominierte die Umgebung, ein spitzer, aufwärtsdrängender Felsen, umgeben von flachem, strauchbewachsenem Land. Da sie so großes Interesse daran zeigte, folgte ich mit den Augen seiner Kontur und fuhr den unregelmäßigen, zweigipfligen Bergrücken entlang.

Eine langsame, unregelmäßige Biegung, dann eine scharfe Kurve nach Norden, wieder eine scharfe Kurve zurück in die andere Richtung, dann wieder ein längerer Ausläufer nach Norden, dann fiel sie wieder steil Richtung Süden ab, um plötzlich in einer weiteren sanften Biegung auszulaufen.

Nur, dass es nicht nach Norden oder Süden ging, so wie ich die Linien aus ihrer bruchstückhaften Erinnerung immer interpretiert hatte, sondern hinauf und hinunter.

Das Profil eines Bergrückens.

Die Linien, die zu Jared und Jamie führten. Das hier war die erste Linie, der Ausgangspunkt.

Ich konnte sie finden.

Wir können sie finden, korrigierte sie mich. Du kennst nicht alle Angaben. Ich habe dir nicht alles gezeigt, genau wie bei der Hütte.

»Ich verstehe das nicht. Wo fuhrt das alles hin? Wie kann uns ein Berg irgendwo hinführen?« Mein Puls beschleunigte sich, als mir klarwurde: Jared war in der Nähe. Jamie in meiner Reichweite.

Sie zeigte mir die Antwort.

»Das ist bloß Gekritzel. Und Onkel Jeb ist nichts weiter als ein alter Spinner. Durchgeknallt, wie alle in der Familie meines Vaters.« Ich versuche Jared das Album aus der Hand zu nehmen, aber er scheint es kaum zu bemerken.

»Durchgeknallt, so wie Sharons Mutter?«, kontert er, während er immer noch die dunklen Bleistiftlinien studiert, die die Rückseite des alten Fotoalbums verschandeln. Es ist das Einzige, das mir auf der Flucht nicht abhanden gekommen ist. Und sogar die Zeichnung, die der verrückte Onkel Jeb bei seinem letzten Besuch darauf zurückgelassen hat, ist mir zu einer lieben Erinnerung geworden. »Eins zu null für dich.«

Wenn Sharon noch lebt, dann deshalb, weil ihre Mutter, die verrückte Tante Maggie, dem verrückten Onkel Jeb ohne Weiteres den Rang als die Verrückteste der verrückten Geschwister Stryder ablaufen könnte. Mein eigener Vater war nur leicht vom stryderschen Irrsinn infiziert gewesen. Er hatte keinen geheimen Bunker im Hinterhof oder so etwas. Die anderen, Tante Maggie, Onkel Jeb und Onkel Guy, waren überzeugte Verschwörungstheoretiker. Onkel Guy war gestorben, noch bevor die anderen im Zuge der Invasion verschwunden waren - bei einem so gewöhnlichen Autounfall, dass sogar Maggie und Jeb Schwierigkeiten hatten, eine Intrige drum herumzustricken.