Mein Vater hatte sie immer liebevoll die Irren genannt. »Ich glaube, es wäre Zeit, mal wieder die Irren zu besuchen«, kündigte er gelegentlich an und dann stöhnte Mom auf - weshalb diese Ankündigungen nicht allzu häufig vorkamen.
Bei einem unserer seltenen Besuche in Chicago hatten Sharon und ich uns in das Geheimversteck ihrer Mutter geschlichen. Wir wurden erwischt - Tante Maggie hatte überall Fallen aufgestellt. Sharon wurde lautstark ausgeschimpft, und obwohl ich schwören musste, niemandem etwas davon zu erzählen, hatte ich das Gefühl, dass Tante Maggie sich irgendwo einen neuen Unterschlupf bauen würde. Aber ich weiß noch, wo der erste ist. Ich stelle mir vor, dass Sharon jetzt dort lebt wie Anne Frank, mitten in einer feindlichen Stadt. Wir müssen sie finden und nach Hause holen.
Jared unterbricht meine Erinnerungen. »Die Spinner sind genau die, die überlebt haben. Leute, die überall Big Brother vermuteten, obwohl er gar nicht da war. Leute, die den Rest der Menschheit misstrauisch beäugten, schon bevor der Rest der Menschheit gefährlich wurde. Leute mit bereitstehenden Verstecken.« Jared grinst, während er weiter die Linien betrachtet. Dann wird er ernst. »Leute wie mein Vater. Wenn er und meine Brüder sich versteckt hätten, anstatt zu kämpfen ... dann wären sie jetzt noch hier.«
Als ich den Schmerz in seinen Worten höre, wird meine Stimme sanfter. »Okay, du magst Recht haben mit deiner Theorie. Aber diese Linien haben keinerlei Bedeutung.«
»Erzähl mir noch mal, was er gesagt hat, als er sie gezeichnet hat.«
Ich seufze. »Sie haben sich gestritten - Onkel Jeb und Dad. Onkel Jeb hat versucht ihn davon zu überzeugen, dass irgendetwas nicht stimme, hat ihm gesagt, er solle niemandem vertrauen. Dad hat ihn ausgelacht. Jeb schnappte sich das Fotoalbum vom Couchtisch und begann die Linien mit einem Bleistift auf die Rückseite ... geradezu einzuritzen. Dad wurde sauer, sagte, meine Mom würde wütend werden. Jeb sagte: >Lindas Mutter hat euch alle zu sich eingeladen, stimmt's? Bisschen seltsam, so plötzlich, oder? Und sie war stinkig, als nur Linda aufgetaucht ist? Ganz ehrlich, Trev, ich glaube nicht, dass Linda noch an irgendetwas viel liegt, wenn sie zurückkommt. Vielleicht tut sie so, aber du wirst merken, dass das nur gespielt ist.< Was er sagte, schien damals keinen Sinn zu ergeben, und mein Vater wurde total wütend. Er schmiss Onkel Jeb raus. Jeb wollte erst nicht gehen. Er warnte uns weiter, nicht zu warten, bis es zu spät sei. Er packte mich an der Schulter und zog mich ganz nah zu sich heran. >Pass auf, dass sie dich nicht erwischen, Kleine<, flüsterte er. >Folge den Linien. Fang vorne an und folge den Linien. Onkel Jeb reserviert dir ein sicheres Plätzchen.< Dann schob ihn Dad zur Tür hinaus.«
Jared nickt geistesabwesend, immer noch auf die Linien konzent- riert. »Vorne ... Fang vorne an ... das muss irgendwas zu bedeuten haben.«
»Wirklich? Es ist nur Gekritzel, Jared, keine Landkarte. Sie sind doch noch nicht mal miteinander verbunden.«
»Trotzdem, irgendwas ist damit. Die erste kommt mir irgendwie be- kannt vor. Ich könnte schwören, ich hätte sie schon mal gesehen.« Ich seufze. »Vielleicht hat er Tante Maggie davon erzählt. Vielleicht weiß sie mehr.«
»Vielleicht«, sagt er und starrt weiterhin Onkel Jebs Gekritzel an.
Sie zerrte mich noch weiter zurück in die Vergangenheit, zu einer viel, viel älteren Erinnerung- einer Erinnerung, die ihr lange nicht bewusst gewesen war. Ich stellte überrascht fest, dass sie diese beiden Erinnerungen - die alte und die neuere - erst vor Kurzem miteinander verknüpft hatte. Erst, als ich schon hier war. Deshalb waren die Linien durch ihre strenge Kontrolle gerutscht, obwohl sie zu ihren wertvollsten Geheimnissen gehörten: weil sie von ihrer Entdeckung selbst überwältigt worden war.
In dieser verschwommenen, frühen Erinnerung saß Melanie bei ihrem Vater auf dem Schoß, dasselbe Album -das jetzt noch nicht so abgegriffen war - geöffnet auf den Knien. Ihre Hände waren klein, ihre Finger knubbelig. Es war seltsam, sich daran zu erinnern, ein Kind in diesem Körper gewesen zu sein. Sie waren auf der ersten Seite.
»Weißt du noch, wo das ist?«, fragt Dad und zeigt auf das alte, graue Foto oben auf der Seite. Es sieht ganz durchscheinend aus, als wäre es abgenutzt und immer dünner und dünner und dünner geworden, seit irgendein Ururgroßvater es gemacht hat.
»Da kommen wir Stryders her«, antworte ich und wiederhole damit, was man mir beigebracht hat.
»Genau. Das ist die alte Stryder-Ranch. Du warst schon mal da, aber das weißt du bestimmt nicht mehr. Ich glaube, du warst gerade mal achtzehn Monate alt.« Dad lacht. »Das Land hat schon immer den Stryders gehört...«
Und dann die Erinnerung an das Foto selbst. Ein Bild, das sie schon tausendmal angeschaut hatte, ohne es wirklich zu sehen. Es war schwarz-weiß, verblichen zu Grautönen. Ein kleines Blockhaus im Hintergrund in einer kahlen Wüstenlandschaft; am vorderen Bildrand ein Koppelzaun; zwischen dem Zaun und dem Haus die Silhouetten von ein paar Pferden. Und dann, hinter alldem, das ausgeprägte, vertraute Profil...
Auf den oberen weißen Rand waren mit einem Bleistift Wörter gekritzelt worden, eine Bildüberschrift:
Stryder-Ranch, 1904, im morgendlichen Schatten des ...
»Picacho Peak«, sagte ich leise.
Jared hat es bestimmt auch rausgekriegt, auch wenn sie Sharon nie gefunden haben. Ich weiß, dass er dahintergekommen ist. Er ist schlauer als ich und er hat das Foto; er ist bestimmt sogar noch vor mir auf die Antwort gekommen. Er könnte so nah sein ...
Der Gedanke erfüllte sie mit so großer Sehnsucht und Aufregung, dass die Mauer in meinem Kopf völlig verschwand.
Ich sah jetzt die ganze Reise vor mir, sah ihren, Jareds und Jamies mühevollen Trip quer durch das ganze Land, immer nachts in ihrem gestohlenen unauffälligen Wagen. Sie waren wochenlang unterwegs gewesen. Ich sah, wo sie sich getrennt und wo Jared und Jamie sich versteckt gehalten hatten, im kalten Wald außerhalb der Stadt, der so anders war als die leere Wüste, an die sie gewöhnt waren. In gewisser Weise kam ihnen der Wald sogar sicherer vor, denn seine Äste waren dicht bewachsen und boten gute Deckung, ganz anders als die dürre Wüstenvegetation, hinter der man sich nur schlecht verstecken konnte, aber er schien ihnen andererseits durch seine fremden Gerüche und Geräusche auch gefährlicher zu sein.
Dann die Trennung, eine Erinnerung, die so schmerzhaft war, dass wir sie schaudernd im Schnelldurchgang hinter uns brachten. Dann kam das leerstehende Gebäude, in dem sie sich versteckt und von wo aus sie das gegenüberliegende Haus beobachtet hatte. Dort, versteckt in den Mauern oder dem geheimen Keller, hatte sie gehofft Sharon zu finden.