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Ich hätte dich das nicht sehen lassen dürfen, dachte Melanie. Ihre lautlose Stimme war kraftlos und verriet ihre Erschöpfung. Der Ansturm ihrer Erinnerungen, die Überzeugungsarbeit und Anstrengung hatten sie ausgelaugt. Du wirst ihnen verraten, wo sie sind. Du wirst auch sie umbringen.

»Ja«, dachte ich laut nach. »Ich muss meine Pflicht erfüllen.«

Warum?, murmelte sie fast schläfrig. Was hast du davon?

Ich wollte nicht mit ihr diskutieren, deshalb sagte ich nichts. Der Berg ragte jetzt noch höher vor uns auf. In wenigen

Augenblicken würden wir direkt daran vorbeifahren. Ich konnte die kleine Raststätte sehen - die Tankstelle, ein Fast-Food-Restaurant, an der einen Seite von einer ebenen Fläche aus Beton begrenzt, einem Standplatz für fahrbare Häuser. Es standen nur wenige dort; die Hitze des beginnenden Sommers machte den Aufenthalt hier nicht gerade angenehm.

Was jetzt?, fragte ich mich. Anhalten zu einem späten Mittag- oder einem frühen Abendessen? Tanken und dann nach Tucson weiterfahren, um der Sucherin von meinen neuesten Entdeckun- gen zu berichten?

Der Gedanke war so abstoßend, dass mein leerer Magen einen Satz machte und ich die Kiefer zusammenpresste.

Instinktiv stieg ich auf die Bremse und kam quietschend mitten auf der Fahrbahn zum Stehen. Ich hatte Glück; hinter mir war kein Auto, das auf mich auffahren konnte. Es waren auch keine Autofahrer in der Nähe, die anhalten und ihre Hilfe anbieten konnten. Der Highway war leer. Die Sonne brannte auf den Asphalt, so dass er flimmerte und stellenweise zu verschwinden schien.

Die Vorstellung, meinen geradlinigen vorgesehenen Weg fortzusetzen, sollte sich eigentlich nicht wie Verrat anfühlen. Meine erste Sprache, die ureigene Sprache der Seelen, die nur auf unserem Ursprungsplaneten gesprochen wurde, kannte kein Wort für Verrat oder Verräter. Noch nicht mal für Loyalität - denn wenn das Gegenteil nicht existierte, ergab der Begriff keinen Sinn.

Und dennoch fühlte ich mich unglaublich schuldig, wenn ich auch nur an die Sucherin dachte. Es wäre falsch, ihr zu erzählen, was ich wusste. Wieso falsch?, widersprach ich grimmig meinem eigenen Gedanken. Wenn ich hier anhielt und den verführerischen Vorschlägen meines Wirts zuhörte, dann wäre ich wirklich eine Verräterin. Aber das war unmöglich. Ich war eine Seele.

Und doch wusste ich, wonach ich verlangte, dringender und intensiver, als ich jemals in all den acht Leben, die ich gelebt hatte, nach irgendetwas verlangt hatte. Das Bild von Jareds Gesicht tanzte hinter meinen Augenlidern, als ich in die Sonne blinzelte -und diesmal war es nicht Melanies Erinnerung, sondern meine eigene Erinnerung an ihre. Sie zwang mir in diesem Moment nichts auf. Ich spürte sie kaum in meinem Kopf, stellte mir vor, wie sie den Atem anhielt - als ob das möglich wäre -, während sie darauf wartete, dass ich mich entschied.

Ich konnte mich nicht von den Wünschen dieses Körpers abgrenzen. Er war ich, viel stärker als geplant. War das Verlangen meins oder seins? Spielte dieser Unterschied jetzt überhaupt noch eine Rolle?

Im Rückspiegel sah ich das Aufblitzen eines Sonnenstrahls, der von einem Auto in der Ferne reflektiert wurde.

Ich trat auf das Gaspedal und fuhr langsam auf die kleine Raststätte im Schatten des Berges zu. Es gab eigentlich nur eine Möglichkeit.

Abgebogen

Die Ladenglocke läutete und kündigte einen weiteren Kunden des Tankstellen-Shops an. Ich fuhr schuldbewusst zusammen und duckte meinen Kopf hinter das Regal, an dem wir gerade standen.

Hör auf, dich wie eine Verbrecherin aufzuführen, wies Melanie mich zurecht.

Ich führe mich nicht nur so auf erwiderte ich knapp.

Meine Handflächen fühlten sich unter ihrer dünnen Schweißschicht kalt an, obwohl es in dem kleinen Ladenlokal ziemlich heiß war. Die großen Fenster ließen so viel Sonne herein, dass die laute, auf Hochtouren laufende Klimaanlage nicht dagegen ankam.

Welchen soll ich nehmen?, wollte ich wissen.

Den Größeren, antwortete sie.

Ich griff nach dem größeren der beiden Rucksäcke im Angebot, einem aus Segeltuch, der so aussah, als würde deutlich mehr hin-einpassen, als ich tragen konnte. Dann ging ich zu dem Regal mit den Wasserflaschen.

Wir können zwölf Liter tragen, beschloss sie. Dann haben wir drei Tage Zeit, sie zu finden.

Ich holte tief Luft und versuchte mich selbst davon zu überzeu- gen, dass ich es am Ende doch nicht tun würde. Ich wollte einfach nur noch mehr Angaben von ihr bekommen, das war alles. Wenn ich die ganze Geschichte zusammenhätte, würde ich jemanden finden -vielleicht einen anderen Sucher, einen, der nicht so widerwärtig war wie die, die man mir zugeteilt hatte -, dem ich die Informationen weitergeben konnte. Ich war nur gründlich, versicherte ich mir.

Mein unbeholfener Versuch, mich selbst zu belügen, war so lächerlich, dass Melanie ihm nicht die geringste Aufmerksamkeit schenkte und sich überhaupt keine Sorgen machte. Die Sucherin hatte mich ja gewarnt - es musste wohl wirklich zu spät für mich sein. Vielleicht hätte ich doch fliegen sollen.

Zu spät? Schön wär's!, brummte Melanie. Ich kann dich nicht dazu bringen, irgendwas zu tun, das du nicht willst. Ich kann ja noch nicht mal meine Hand heben!, beklagte sie sich frustriert.

Ich sah auf meine Hand hinab, die auf meiner Hüfte ruhte statt nach dem Wasser zu greifen, wie sie unbedingt wollte. Ich konnte ihre Ungeduld spüren, ihren fast verzweifelten Wunsch, endlich aufzubrechen. Wieder unterwegs zu sein, als wäre ich nur ein kurzes Zwischenspiel in ihrem Leben gewesen.

Sie kommentierte das mit der gedanklichen Entsprechung eines Schnaubens und wandte sich dann wieder unserem Vorhaben zu. Komm schon, drängte sie mich. Wir müssen los. Es wird bald dunkel.

Seufzend zog ich das größte der eingeschweißten Flaschen- pakete vom Regal. Es landete beinahe auf dem Boden, bevor es mir gelang, es auf einem der unteren Regalbretter abzustützen. Meine Arme wurden halb aus den Schultergelenken gerissen.