Nein, nein, nein! Dieser Gedanke war einzig meiner und ich versuchte krampfhaft mich von ihr loszumachen, aber wir waren fest miteinander verbunden. Und wir rasten auf den tödlichen Abgrund zu.
»Bitte!« Die Rufe werden verzweifelter.
Fast muss ich lachen, als ich merke, dass ich schnell genug bin. Ich stelle mir vor, wie ihre Hände nur Zentimeter entfernt nach mir greifen. Aber ich bin schnell genug. Ich halte am Rand des Fußbodens noch nicht mal an. Das Loch springt mir entgegen. Die Leere verschluckt mich. Meine Beine rotieren nutzlos. Meine Hände greifen nach der Luft, fassen hindurch auf der Suche nach etwas Festem. Kälte durchfährt mich wie ein Tornado. Ich höre den Aufprall, bevor ich ihn spüre ... der Wind ist weg ... Und dann ist überall Schmerz ... alles ist Schmerz. Lass es aufhören.
Nicht hoch genug, flüstere ich mir selbst durch den Schmerz hindurch zu. Wann wird der Schmerz aufhören? Wann ...?
Schwärze verschluckte den Todeskampf und ich war unglaublich dankbar, dass die Erinnerung zu ihrem unwiderruflichen Ende gekommen war. Die Schwärze verschlang alles und ich war frei. Ich atmete tief durch, um mich zu sammeln, so wie es dieser Körper gewohnt war. Mein Körper.
Aber dann kehrte die Farbe zurück, die Erinnerung bäumte sich auf und überwältigte mich von Neuem.
Nein! Ich geriet in Panik, hatte Angst vor der Kälte und dem Schmerz und der Angst selbst.
Aber es war nicht dieselbe Erinnerung. Dies war eine Erinnerung in der Erinnerung - die Erinnerung einer Sterbenden, wie ein letzter Atemzug und doch irgendwie noch intensiver als die erste.
Die Schwärze verschlang alles außer der Erinnerung an ein Gesicht.
Das Gesicht war mir so fremd wie die gesichtslosen, verschlungenen Tentakel meines letzten Wirtskörpers diesem neuen Körper, der ich geworden war. Ich hatte solche Gesichter auf den Bildern gesehen, die man mir gezeigt hatte, um mich auf diese Welt vorzubereiten. Es war schwierig, sie auseinanderzuhalten, die winzigen Unterschiede in Farbe und Form zu erkennen, die die einzigen Kennzeichen der Individuen waren. Alle irgendwie gleich. Die Nase saß in der Mitte der Kugel, darüber die Augen und darunter ein Mund, die Ohren an den Seiten. Eine ganze Auswahl an Sinnen, alle außer dem Tastsinn, war an einer Stelle versammelt. Haut über den Knochen, Haar auf dem Kopf und in seltsamen pelzartigen Linien über den Augen. Manche hatten noch mehr Pelz weiter unten am Kinn. Die waren immer männlich. Die Farben variierten zwischen allen erdenklichen Brauntönen von Hellbeige bis Dunkelbraun, fast Schwarz. Abgesehen davon - wie hielt man sie auseinander?
Dieses Gesicht jedoch hätte ich unter Millionen wiedererkannt.
Es war länglich und die Knochen unter der Haut traten deutlich hervor. Es war von einem hellen Goldbraun. Das Haar war nur wenige Nuancen dunkler als die Haut, außer dort, wo es von flachsfarbenen Strähnen aufgehellt wurde, und es bedeckte nur den Kopf und den komischen Streifen über den Augen. Die runden Iris in den weißen Augäpfeln waren dunkler als das Haar, aber ebenfalls mit Lichtsprenkeln durchsetzt. Kleine Linien umrahmten die Augen und aus ihren Erinnerungen wusste ich, dass die Linien vom Lächeln und In-die-Sonne-Blinzeln stammten.
Ich hatte keine Ahnung, was bei diesen Fremden als attraktiv galt, und doch wusste ich, dass dieses Gesicht schön war. Ich wollte es weiter ansehen. Sobald mir das klarwurde, verschwand es.
Meins, sagte der fremde Gedanke, den es nicht geben durfte.
Ich erstarrte erneut ungläubig. Außer mir sollte hier eigentlich niemand sein. Und dieser Gedanke war so stark und präsent!
Unmöglich. Wie konnte sie noch hier sein? Dies war jetzt ich.
Meins, wies ich sie zurecht und das Wort war voll der Kraft und Autorität, die mir allein zustand. Das ist alles meins.
Weshalb antworte ich ihr dann überhaupt?, fragte ich mich, als Stimmen meine Gedanken unterbrachen.
Mitgehört
Die Stimmen waren gedämpft und nah und, obwohl ich sie erst jetzt bemerkt hatte, offenbar mitten in einem gemurmelten Gespräch.
»Ich fürchte, es ist zu viel für sie«, sagte eine. Die Stimme klang sanft, aber tief, es war die eines Mannes. »Es wäre für jeden zu viel. Diese Gewalt!« Der Tonfall war voller Abscheu.
»Sie hat nur einmal geschrien«, sagte eine höhere, dünne Frauenstimme. Ihre Bemerkung klang fast fröhlich, als würde sie eine Auseinandersetzung gewinnen.
»Ich weiß«, gab der Mann zu. »Sie ist sehr stark. Andere wären aus geringerem Grund viel stärker traumatisiert.«
»Ich bin sicher, dass sie es gut überstehen wird, so wie ich es Ihnen gesagt habe.«
»Vielleicht haben Sie Ihre Berufung verfehlt.« Die Stimme des Mannes hatte etwas Scharfes an sich. Sarkasmus, ließ mich mein Sprachzentrum wissen. »Vielleicht hätten Sie auch Heiler werden sollen, so wie ich.«
Die Frau stieß einen belustigten Ton aus. Lachen. »Das bezweifle ich. Wir Sucher ziehen eine andere Art der Diagnose vor.«
Mein Körper kannte dieses Wort, diese Bezeichnung: Sucher. Es jagte mir einen Angstschauer über den Rücken. Eine ver- bliebene Reaktion. Natürlich hatte ich keinen Grund, Sucher zu fürchten.
»Ich frage mich manchmal, ob die Gewalt, diese menschliche Krankheit, die Vertreter Ihres Berufes infiziert«, sagte der Mann nachdenklich, und seine Stimme klang noch immer verärgert.
»Gewalt ist Teil des Lebens, das Sie gewählt haben. Ist noch genug vom ursprünglichen Temperament Ihres Körpers übrig, dass Sie sogar Freude daran haben?«
Seine Anschuldigung, sein Tonfall überraschten mich. Die Diskussion klang beinahe wie ... ein Streit. Etwas, das meinem Wirt vertraut war, ich aber noch nie erlebt hatte.
Die Frau begann sich zu verteidigen. »Wir haben die Gewalt nicht freiwillig gewählt. Wir nehmen sie in Kauf, wenn es nötig ist. Und es ist gut für euch alle, dass einige von uns stark genug für diese Unannehmlichkeiten sind. Euer Frieden wäre ohne unsere Arbeit nicht sehr dauerhaft.«
»Es war einmal. Ich glaube, dass Ihr Gewerbe bald überholt sein wird.«
»Ihr Irrtum liegt dort auf dem Bett.«
»Ein einzelnes, unbewaffnetes Menschenmädchen! Wirklich eine enorme Bedrohung unseres Friedens.«
Die Frau atmete heftig aus. Ein Seufzen. »Aber wo ist sie hergekommen? Wieso konnte sie mitten in Chicago auftauchen, einer schon seit Langem zivilisierten Stadt, Hunderte Kilometer von jeglicher Rebellenaktivität entfernt? Hat sie das alleine geschafft?«
Sie hängte die Fragen aneinander, ohne dass sie eine Antwort zu erwarten schien, als hätte sie sie schon oft gestellt.
»Das ist Ihr Problem, nicht meins«, sagte der Mann. »Meine Aufgabe ist es, dieser Seele zu helfen, sich ohne unnötige Schmerzen oder Traumata an ihren neuen Wirt zu gewöhnen. Und Sie sind anscheinend hier, um sich in meine Arbeit einzumischen.«
Immer noch nicht ganz bei mir, vollkommen damit beschäftigt, mich in dieser neuen Sinneswelt zurechtzufinden, wurde mir erst jetzt bewusst, dass sich das Gespräch um mich drehte. Ich war die Seele, von der sie sprachen. Das war eine neue Bedeutung für ein vertrautes Wort, ein Wort, das für meinen Wirt noch so viele andere Bedeutungen gehabt hatte. Auf jedem Planeten nahmen wir einen anderen Namen an. Seele. Ich glaube, es war eine passende Beschreibung. Die unsichtbare Macht, die den Körper lenkt.