Nach Hause?, fragte sie und bombardierte mich mit trostlosen Bildern: die leere Wohnung in San Diego, der abstoßende Gesichtsausdruck der Sucherin, der Punkt, der auf der Karte Tucson markierte ... und ein kurzes, glücklicheres Schlaglicht auf den roten Canyon, das sich aus Versehen dazwischenstahl. Wo bitte soll das sein?
Ich ignorierte ihre Anweisung und kehrte dem Auto den Rücken zu. Ich steckte sowieso schon zu tief drin. Ich würde nicht jegliche Hoffnung aufgeben, zurückzukehren. Vielleicht würde irgendjemand das Auto finden und dann mich. Ich könnte jedem Retter problemlos und wahrheitsgemäß erklären, was ich hier tat: Ich hatte mich verirrt. Ich hatte die Orientierung verloren ... die Kontrolle verloren ... den Verstand verloren.
Zunächst folgte ich dem Wasserlauf und mein Körper fand zu seinem natürlichen, weit ausschreitenden Rhythmus. Es war nicht die Art, wie ich auf dem Bürgersteig zur Uni ging und zurück - es war überhaupt nicht mein Gang. Aber er passte zu diesem unebenen Gelände und brachte mich zügig voran. Ich war überrascht, wie schnell es ging, bis ich mich an das Tempo gewöhnt hatte.
»Was, wenn ich nicht hier entlanggekommen wäre?«, fragte ich, als ich immer weiter in die menschenleere Wüste vordrang. »Was, wenn Heiler Fords immer noch in Chicago wäre? Was, wenn uns mein Weg nicht in ihre Nähe geführt hätte?«
Es war diese Unmittelbarkeit - diese Verlockung, der Gedanke, dass Jared und Jamie vielleicht genau hier waren, irgendwo in dieser verlassenen Gegend -, die es so unmöglich gemacht hatte, diesem sinnlosen Plan zu widerstehen.
Ich weiß es nicht genau, gab Melanie zu. Ich glaube, ich hätte es trotzdem versucht, aber während die anderen in der Nähe waren, hatte ich Angst. Ich habe immer noch Angst. Dir zu vertrauen könnte sie umbringen.
Wir schauderten beide bei dem Gedanken.
Aber hier zu sein, so nah dran ...da musste ich es einfach versuchen.
Bitte - und plötzlich bettelte sie, flehte mich an, ohne eine Spur von Abneigung in ihren Gedanken -, bitte tu ihnen nicht weh. Bitte.
»Ich will ihnen nicht wehtun ... Ich weiß gar nicht, ob ich ihnen wehtun kann. Lieber würde ich ...«
Was denn? Selber sterben? Lieber, als den Suchern ein paar menschliche Herumtreiber auszuliefern?
Wir schauderten wieder bei dem Gedanken, aber mein Abscheu vor dieser Vorstellung tröstete sie. Mir dagegen machte es eher Angst.
Als der Wasserlauf zu weit nach Norden führte, schlug Melanie vor, den aschfarbenen Pfad zu verlassen und direkt auf den dritten Orientierungspunkt zuzugehen, die östliche Felsspitze, die wie ein Finger in den wolkenlosen Himmel zu zeigen schien.
Ich wollte diesen Wasserlauf nicht verlassen, genauso wenig wie ich das Auto hatte verlassen wollen. Ich könnte ihm zurück bis zur Straße folgen und dann der Straße bis zum Highway. Es waren etliche Kilometer und würde mehrere Tage dauern, aber wenn ich ihn erst hinter mir gelassen hatte, wäre ich endgültig vom Weg abgekommen.
Du musst daran glauben, Wanderer. Wir finden Onkel Jeb oder er findet uns.
Falls er noch lebt, fügte ich seufzend hinzu und bog von meinem Pfad ab ins Gestrüpp, das überall gleich aussah. Ich bin das Glauben nicht gewohnt. Ich weiß nicht, ob ich viel damit anfangen kann.
Und wie ist es mit Vertrauen?
Vertrauen - wem? Dir? Ich lachte. Die heiße Luft verbrannte mir beim Einatmen die Kehle.
Stell dir vor, wechselte sie das Thema, vielleicht treffen wir sie schon heute Abend.
Die Sehnsucht war die von uns beiden; das Bild ihrer Gesichter, ein Mann, ein Kind, entsprang den Erinnerungen von beiden. Als ich schneller ging, war ich mir nicht sicher, ob ich die Bewegung vollkommen unter Kontrolle hatte.
Es wurde heißer - und noch heißer und dann noch heißer. Der Schweiß pappte mir die Haare an den Kopf und mein hellgelbes T-Shirt klebte an allen Stellen meines Körpers fest, mit denen es in Berührung kam. Am Nachmittag kamen glühende Windböen auf, die mir Sand ins Gesicht bliesen. Die heiße Luft trocknete den Schweiß, überzog mein Haar mit einer Staubkruste und löste das T-Shirt von meiner Haut; es war steif vom Salz wie ein Stück Pappe. Ich ging weiter.
Ich trank öfter Wasser, als Melanie guthieß. Sie missgönnte mir jeden Schluck und warnte, dass wir es morgen viel nötiger haben würden. Aber ich hatte ihr heute schon so viel zugestanden, dass ich nicht in der Stimmung war, auf sie zu hören. Ich trank, wenn ich Durst hatte, was fast immer der Fall war.
Meine Beine trugen mich vorwärts, ohne dass ich einen Gedanken darauf verschwendete. Das rhythmische Knirschen meiner Schritte lieferte die leise und eintönige Hintergrundmusik.
Es gab nichts zu sehen; ein verkrüppelter Strauch sah genauso aus wie der nächste. Die ereignislose Gleichförmigkeit versetzte mich in eine Art Trance - ich nahm eigentlich nur die Silhouette der Berge vor dem blassen, ausgeblichenen Himmel wahr. Alle paar Schritte studierte ich ihre Umrisse, bis ich sie so gut kannte, dass ich sie mit verbundenen Augen hätte nachzeichnen können. Die Landschaft schien wie erstarrt zu sein. Ich drehte ständig den Kopf hin und her auf der Suche nach der vierten Wegmarkierung, die Melanie mir erst heute Morgen gezeigt hatte - ein großer kuppelförmiger Gipfel, dem ein Stück fehlte, wie eine Aushöhlung in seiner Seite -, als ob die Perspektive sich seit meinem letzten Schritt so verändert haben könnte. Ich hoffte, dass dieser letzte Anhaltspunkt der entscheidende war, denn wir konnten von Glück sagen, überhaupt so weit gekommen zu sein. Aber ich hatte das Gefühl, dass Melanie noch etwas vor mir verbarg und das Ende unserer Reise unendlich weit entfernt war.