Dahinter würden sie ebenfalls eine Lüge vermuten, und zwar eine so überaus unwiderstehliche -die Vorstellung, dass ein Mensch nach der Implantation weiterleben konnte, war aus ihrer Perspektive unglaublich tröstlich und daher so heimtückisch -, dass sie erst recht glauben würden, ich wäre eine Sucherin. Sie würden eine Falle wittern, mich schnell aus dem Weg räumen und sich ein neues Versteck weit weg von hier suchen.
Wahrscheinlich hast du Recht, pflichtete Melanie mir bei.
Zumindest würde ich es so machen.
Aber noch verspürte ich keine Schmerzen und daher fiel es mir schwer, mich zum Selbstmord durchzuringen, in welcher Form auch immer; mein Überlebenstrieb versiegelte meine Lippen. Die Erinnerung an die letzte Sitzung bei meiner Helferin - in einer so zivilisierten Welt, dass sie auf einen anderen Planeten zu gehören schien - blitzte in meinem Kopf auf. Melanie, die mich aufforderte, sie sterben zu lassen, ein scheinbarer Selbstmordimpuls, aber das war nur Bluff gewesen. Ich erinnerte mich noch daran, dass ich gedacht hatte, wie schwierig es war, sich den Tod vorzustellen, wenn man in einem bequemen Sessel saß.
Gestern Nacht hatten Melanie und ich uns den Tod herbeigewünscht, aber da war der Tod nur Zentimeter entfernt gewesen. Jetzt, wo ich wieder auf den Beinen war, war das etwas ganz anderes.
Ich will auch nicht sterben, flüsterte Melanie. Aber vielleicht irrst du dich. Vielleicht ist das nicht der Grund, weshalb sie uns am Leben lassen. Ich kann nicht verstehen, warum sie ... Sie wollte sich die Dinge, die sie uns antun konnten, nicht vorstellen, aber ich war mir sicher, dass ihr noch Schlimmeres einfallen würde als mir. Welche Antwort könnten sie so unbedingt von dir wollen?
Das werde ich nie verraten. Dir nicht und auch sonst keinem Menschen.
Eine mutige Aussage. Aber, wie gesagt, bisher verspürte ich keine Schmerzen ...
Eine weitere Stunde war vergangen - die Sonne stand jetzt direkt über uns und brannte wie eine Feuerkrone auf meinem Haar -, als sich das Geräusch veränderte. Die knirschenden Schritte vor mir, die ich kaum noch wahrnahm, begannen zu hallen. Jebs Füße gingen wie meine immer noch über Sand, aber irgendjemand vor uns hatte einen anderen Untergrund betreten.
»Vorsichtig jetzt«, warnte Jeb mich. »Pass auf deinen Kopf auf.«
Ich zögerte, unsicher, worauf genau ich aufpassen sollte oder wie, ohne etwas sehen zu können. Seine Hand verschwand von meinem Rücken und drückte meinen Kopf nach unten, damit ich mich bückte. Mein Nacken war ganz steif.
Er führte mich weiter vorwärts und ich hörte, wie auch unsere Schritte jetzt ein hallendes Geräusch machten. Der Boden gab nicht nach wie der Sand und fühlte sich nicht lose an wie Steine. Er war eben und fest unter meinen Füßen.
Die Sonne war verschwunden - ich spürte nicht mehr, wie sie meine Haut verbrannte oder mein Haar versengte.
Ich ging noch einen Schritt weiter und die Luft auf meinem Gesicht fühlte sich plötzlich anders an. Was ich spürte, war keine Brise. Die Luft stand still - ich bewegte mich hinein. Der trockene Wüstenwind verschwand. Diese Luft hier war unbeweglich und kühler. Sie enthielt eine winzige Spur Feuchtigkeit, eine leichte Modrigkeit, die ich sowohl riechen als auch schmecken konnte.
Ich hatte so viele Fragen im Kopf und Melanie ebenfalls. Sie hätte ihre gerne gestellt, aber ich blieb stumm. Es gab nichts zu sagen, was uns jetzt weiterhelfen würde.
»Alles klar, du kannst dich wieder aufrichten«, sagte Jeb.
Langsam hob ich den Kopf.
Sogar mit Augenbinde konnte ich erkennen, dass es kein Licht gab. An den Rändern des Halstuchs war es pechschwarz. Ich hörte die anderen hinter uns ungeduldig mit den Füßen scharren, während sie darauf warteten, dass wir weitergingen.
»Hier lang«, sagte Jeb und führte mich weiter. Unsere Schritte hallten von nahen Wänden wider - der Ort, an dem wir uns befanden, musste relativ beengt sein. Ich merkte, wie ich instinktiv den Kopf einzog.
Wir gingen noch ein paar Schritte weiter und bogen dann um eine scharfe Kurve, die uns in dieselbe Richtung zurückzuführen schien, aus der wir kamen. Der Weg begann bergab zu führen. Mit jedem Schritt wurde er steiler und Jeb reichte mir seine raue Hand, damit ich nicht hinfiel. Ich wusste nicht, wie lange ich durch die Dunkelheit schlitterte und rutschte. Vermutlich kam es mir länger vor, als es wirklich dauerte, weil jede Minute so schrecklich war. Wir bogen erneut ab und dann stieg der Weg wieder an. Meine Beine waren so taub und hölzern, dass mich Jeb halb ziehen musste, als die Steigung stärker wurde. Je weiter wir kamen, desto modriger und feuchter wurde die Luft, aber die Schwärze veränderte sich nicht. Die einzigen Geräusche waren unsere Schritte und ihr nahes Echo.
Der Pfad wurde wieder eben und begann sich wie eine Schlange hin und her zu winden.
Endlich, endlich war ein wenig Helligkeit an den Rändern meiner Augenbinde zu sehen. Ich hoffte, sie würde verrutschen, war aber zu ängstlich, um sie selbst abzunehmen. Ich hatte das Gefühl, ich würde weniger Angst haben, wenn ich bloß sehen könnte, wo ich war und wer mich begleitete.
Mit dem Licht drangen auch Geräusche zu mir. Eigenartige Geräusche, ein leises, plätscherndes Gemurmel. Es hörte sich fast an wie ein Wasserfall.
Das Gemurmel wurde lauter, als wir weitergingen, und je näher es kam, desto weniger klang es nach Wasser. Es war zu veränderlich, bestand aus tiefen und hohen Tönen, die sich vermischten und widerhallten.
Wenn es nicht so unharmonisch gewesen wäre, hätte es wie eine hässlichere Version der Musik geklungen, die ich in der Singenden Welt ständig gehört und gesungen hatte. Die Dunkelheit hinter der Augenbinde passte zu dieser Erinnerung, der Erinnerung an Blindheit.
Melanie konnte den Missklang früher deuten als ich. Ich hatte das Geräusch noch nie gehört, da ich nie zuvor mit Menschen zusammen gewesen war.
Ein Streit, sagte sie. Es hört sich so an, als würden unheimlich viele Leute miteinander streiten.
Sie wurde von dem Geräusch angezogen. Waren hier etwa noch mehr Menschen? Schon die acht hatten uns beide überrascht. Wo waren wir hier?
Hände berührten meinen Nacken und ich zuckte vor ihnen zurück.
»Ganz ruhig jetzt«, sagte Jeb. Er nahm mir die Augenbinde ab.
Ich blinzelte langsam und die dunklen Umrisse um mich herum wurden zu Formen, die ich einordnen konnte: raue, unebene Wände, eine buckelige Decke, ein ausgetretener, staubiger Fußboden. Wir waren irgendwo unter der Erde, dies war eine natürlich entstandene Höhle. Wir konnten nicht allzu tief sein. Ich hatte das Gefühl, dass wir länger bergauf gestiegen als bergab gerutscht waren.