Die Felswände und die Decke waren von einem dunklen, rötlichen Braun und von Löchern übersät wie Schweizer Käse. Die Ränder der unteren Löcher waren abgeschliffen, aber die Kreise über meinem Kopf waren deutlicher begrenzt und schienen scharfe Kanten zu haben.
Das Licht drang durch ein rundes Loch vor uns. Es war ähnlich geformt wie die übrigen Löcher in der Höhle, aber größer. Wir standen an einem Durchgang, an der Schwelle zu einem helleren Raum. Melanie war aufgeregt, fasziniert von der Vorstellung, es könne hier noch mehr Menschen geben. Ich zögerte und fragte mich plötzlich, ob ich die Blindheit dem Sehen vielleicht doch vorziehen würde.
Jeb seufzte. »Entschuldigung«, murmelte er so leise, dass es außer mir niemand hören konnte.
Ich versuchte vergeblich zu schlucken. Mein Kopf begann sich zu drehen, aber das konnte auch am Hunger liegen. Meine Hände zitterten wie Blätter im Wind, als Jeb mich durch die Öffnung schob.
Der Tunnel führte in einen Raum, der so groß war, dass ich zunächst gar nicht begriff, was meine Augen sahen. Die Decke war zu hell und zu hoch über mir - fast wie ein künstlicher Himmel. Ich versuchte zu erkennen, was sie so hell machte, aber die grellen Lichtstrahlen brannten mir in den Augen.
Ich hatte erwartet, dass das Gemurmel lauter werden würde, doch ganz plötzlich war es mucksmäuschenstill in der riesigen Höhle.
Verglichen mit der hellen Decke hoch oben war es hier am Boden düster. Meine Augen brauchten einen Moment, bis sie ausmachen konnten, was all die Umrisse darstellten.
Eine Menge. Es gab kein anderes Wort dafür - eine Menschenmenge stand stumm und wie erstarrt da. Und sie alle durchbohrten mich mit denselben hasserfüllten Blicken, die mir bereits in der Morgendämmerung begegnet waren.
Melanie war so überwältigt, dass sie nichts weiter tun konnte als zählen. Zehn, fünfzehn, zwanzig ... fünfundzwanzig,
sechsundzwanzig, siebenundzwanzig ...
Mir war egal, wie viele es waren. Ich versuchte ihr zu erklären, wie egal es war. Es brauchte nicht zwanzig von ihnen, um mich zu töten. Uns zu töten. Ich versuchte ihr klarzumachen, wie heikel unsere Situation war, aber meine Warnungen drangen in diesem Moment nicht zu ihr durch. Sie war in eine menschliche Welt eingetaucht, die sie sich nie hätte träumen lassen.
Ein Mann trat aus der Menge hervor und ich warf zunächst einen Blick auf seine Hände, um zu sehen, was für eine Waffe er trug. Seine Hände waren zu Fäusten geballt, aber leer. Mein Blick blieb an der sonnengebräunten Färbung seiner Haut hängen und erkannte sie dann wieder.
Die Hoffnung, die plötzlich in mir aufwallte, ließ mich schwindeln und raubte mir den Atem. Ich hob den Blick und sah dem Mann ins Gesicht.
Gestritten
Es war zu viel für uns beide, ihm hier zu begegnen - jetzt, nachdem wir uns bereits damit abgefunden hatten, dass wir ihn nie wiedersehen würden, geglaubt hatten, ihn für immer verloren zu haben. Ich war vollkommen gelähmt, unfähig zu reagieren. Ich wollte Onkel Jeb ansehen, um zu verstehen, warum er uns in der Wüste mit seiner Antwort das Herz gebrochen hatte, aber es gelang mir nicht, die Augen abzuwenden. Verständnislos starrte ich Jared ins Gesicht.
Melanie reagierte anders.
»Jared«, rief sie aus, obwohl das Geräusch, das aus meinemwunden Hals kam, nicht mehr als ein Krächzen war.
Sie trieb mich vorwärts, genau wie in der Wüste, und übernahm die Kontrolle über meinen erstarrten Körper. Der einzige Unterschied war, dass es diesmal gegen meinen Willen geschah. Ich war nicht in der Lage, sie rechtzeitig zurückzuhalten. Sie taumelte vorwärts und hob meine Arme, um sie nach ihm auszustrecken. Ich rief ihr im Kopf eine Warnung zu, aber sie hörte nicht auf mich. Sie war sich meiner Anwesenheit kaum bewusst. Niemand versuchte sie zurückzuhalten, als sie auf ihn zustolperte. Niemand außer mir. Sie war kurz davor, ihn zu berühren, und sah immer noch nicht, was ich sah. Sie sah nicht, wie sich sein Gesicht in den langen Monaten der Trennung verändert hatte, sich erhärtet hatte, wie die Linien jetzt anders verliefen. Sie sah nicht, dass das immerwährende Lächeln, an das sie sich erinnerte, überhaupt nicht mehr in dieses neue Gesicht passen würde. Sie hatte nur einmal gesehen, wie sein Gesichtsausdruck dunkel und bedrohlich geworden war - und das war noch gar nichts gewesen verglichen mit seiner jetzigen Miene. Sie sah es nicht - oder vielleicht kümmerte es sie einfach nicht.
Seine Reichweite war größer als meine.
Bevor Melanie ihn mit meinen Fingern erreichte, schoss seine Hand nach vorn und landete einen seitlichen Treffer in meinem Gesicht. Der Schlag war so hart, dass ich von den Füßen gerissen wurde und mein Kopf auf dem Steinboden aufschlug. Ich hörte, wie der Rest meines Körpers mit einem dumpfen Geräusch auf dem Boden auftraf, aber ich spürte es nicht. Meine Augen verdrehten sich und ein klingelndes Geräusch schrillte mir in den Ohren. Ich kämpfte gegen den Schwindel an, der mich bewusstlos zu machen drohte.
Wie kann man nur so blöd sein, wimmerte ich. Ich hab dir doch gesagt, du sollst so was nie wieder tun.
Jared ist hier, Jared lebt, Jared ist hier. Man konnte nicht vernünftig mit ihr reden. Sie sang die Worte, als wären sie ein Lied.
Ich versuchte meinen Blick wieder scharf zu stellen, aber die seltsame Decke blendete mich. Ich drehte meinen Kopf vom Licht weg und unterdrückte ein Schluchzen, als meine eine Gesichtshälfte daraufhin von heftigen Schmerzen durchzuckt wurde.
Wenn ich schon den Schmerz dieses einen unvermittelten Schlags kaum ertragen konnte, wie konnte ich da hoffen, einen intensiven, kalkulierten Folterangriff auszuhalten?
Neben mir war das Scharren von Füßen zu hören; meine Augen wandten sich instinktiv der Bedrohung zu und ich sah Onkel Jeb über mir stehen. Er hatte eine Hand halb nach mir ausgestreckt, aber er zögerte und sah weg. Ich hob meinen Kopf einen Fingerbreit, wobei ich erneut ein Stöhnen unterdrückte, um zu sehen, was er sah.
Jared kam auf uns zu und sein Gesicht sah genauso aus wie das der Barbaren in der Wüste - nur dass es in seiner Wut eher schön als bedrohlich war. Mein Herz machte einen Satz und klopfte dann unregelmäßig weiter, und ich hätte mich am liebsten selbst ausgelacht. Spielte es eine Rolle, dass er schön war und dass ich ihn liebte, wenn er mich doch töten würde?
Ich sah die Mordlust in seiner Miene und versuchte zu hoffen, dass er seine Wut nicht würde zügeln können, aber ich verspürte immer noch keinen echten Wunsch zu sterben.
Jeb und Jared fixierten sich eine Weile lang gegenseitig. Jareds Kiefer spannten und entspannten sich, Jebs Gesicht blieb dagegen ruhig. Als Jared plötzlich ein wütendes Schnauben ausstieß und einen Schritt zurücktrat, war die lautlose Konfrontation beendet.
Jeb fasste meine Hand und legte mir seinen anderen Arm auf den Rücken, um mir aufzuhelfen. Mein Kopf schwirrte und schmerzte; mein Magen krampfte sich zusammen. Wenn er nicht bereits seit Tagen leer gewesen wäre, hätte ich mich wahrscheinlich übergeben. Es kam mir so vor, als würden meine Füße den Hoden gar nicht berühren. Ich schwankte und kippte nach vorn. Jeb fing mich auf und hielt mich dann am Ellbogen fest, damit ich stehen blieb.
Jared beobachtete uns mit gefletschten Zähnen. In einer vollkommen idiotischen Anwandlung drängte Melanie erneut zu ihm hin. Aber ich hatte den Schock überwunden, ihn hier zu finden, und war nicht so unzurechnungsfähig wie sie. Sie würde nicht wieder die Kontrolle übernehmen. Ich sperrte sie in meinem Kopf hinter er so viele Gitterstäbe wie nur irgend möglich.