Sei einfach still. Merkst du nicht, wie sehr er mich verabscheut? Egal, was du sagst, es wird alles nur noch schlimmer machen. Wir sind so gut wie tot. Aber Jared lebt, Jared ist hier, gurrte sie.
Mit der Stille in der Höhle war es vorbei; überall wurde plötzlich geflüstert, als hätte ich irgendein Stichwort verpasst. Ich konnte jedoch keine Wörter in den Zischlauten ausmachen.
Meine Augen suchten die Menschenmenge ab - es waren alles Erwachsene, keine kleinere, jüngere Person war zu sehen. Diese Abwesenheit tat mir im Herzen weh und Melanie versuchte mit aller Kraft, die eine Frage laut auszusprechen. Ich brachte sie entschlossen zum Schweigen. Es gab hier nichts zu sehen, nichts außer Wut und Hass auf fremden Gesichtern oder Wut und Hass auf Jareds Gesicht.
Bis noch ein Mann sich einen Weg durch das flüsternde Gewühl bahnte. Er war groß und schlank, seine Knochen traten deutlicher unter seiner Haut hervor als bei den meisten anderen. Sein Haar war ausgeblichen, entweder hellbraun oder von einem dunklen, undefinierbaren Blond. Wie sein weiches Haar und sein langer Körper waren auch seine Züge sanft und zart, nicht im Geringsten brutal. Sein Gesicht war nicht wütend, weshalb es meinen Blick sofort auf sich zog.
Die anderen machten dem zurückhaltenden Mann bereitwillig Platz, als genieße er einen gewissen Status unter ihnen. Nur Jared ging ihm nicht aus dem Weg. Er blieb, wo er war, und starrte mich weiter an. Der große Mann ging um ihn herum, ohne dem Hindernis auf seinem Weg mehr Beachtung zu schenken als einem Steinhaufen.
»Also dann«, sagte er in ungewöhnlich herzlichem Ton, als er Jared umkreist hatte und vor mir stehen blieb. »Hier bin ich. Was gibt's?«
Es war Tante Maggie, die plötzlich neben ihm auftauchte und ihm antwortete.
»Jeb hat das da in der Wüste gefunden. Das war mal unsere Nichte Melanie. Es scheint den Angaben gefolgt zu sein, die er ihr gegeben hatte.« Sie warf Jeb einen bösen Blick zu.
»Mmhm«, murmelte der große, knochige Mann, während seine Augen mich neugierig musterten. Sein Blick war seltsam. Er sah aus, als gefiele ihm, was er sah. Ich konnte mir nicht vorstellen, warum.
Meine Augen wanderten von seinem Gesicht zu einer anderen Frau - einer viel jüngeren Frau, die ihre Hand auf seinen Arm gelegt hatte. Meine Aufmerksamkeit wurde komplett von ihrem leuchtenden Haar gefesselt.
Sharon!, rief Melanie aus.
Melanies Cousine sah meinen Augen an, dass ich sie wiedererkannt hatte, und ihre Miene versteinerte Ich stieß Melanie grob in den hinteren Teil meines Kopfes zurück. Pssst!
»Mmhm«, sagte der große Mann wieder und nickte. Er streckte eine Hand nach meinem Gesicht aus und war überrascht, als ich zurückzuckte und mich an Jeb drückte. »Schon gut«, sagte der große Mann und lächelte mich ermutigend an. »Ich werde dir nicht wehtun.«
Er streckte noch einmal die Hand nach meinem Gesicht aus. Ich wich erneut zurück und lehnte mich an Jeb, aber diesmal streckte Jeb seinen Arm aus und schob mich nach vorn. Der große Mann fasste mich zarter als erwartet am Kinn und drehte mein Gesicht zur Seite. Ich spürte, wie seine Finger die Linie in meinem Nacken betasteten, und mir wurde klar, dass er meine Implantationsnarbe untersuchte.
Aus den Augenwinkeln beobachtete ich Jareds Gesicht. Was der Mann tat, regte ihn sichtlich auf, und ich glaubte zu wissen, warum - wie sehr musste er diese dünne rosa Linie in meinem Nacken hassen.
Jared runzelte die Stirn, aber ich war überrascht zu sehen, dass ein Teil der Wut aus seinem Gesicht verschwunden war. Seine Augenbrauen zogen sich zusammen, was ihn eher verwirrt aussehen ließ.
Der große Mann ließ seine Hände sinken und trat einen Schritt zurück. Er lächelte, seine Augen leuchteten.
»Sie sieht recht gesund aus, abgesehen von der momentanen Erschöpfung, dem Flüssigkeitsverlust und der Mangelernährung. Aber ich denke, du hast sie mit so viel Wasser aufgefüllt, dass der Flüssigkeitsverlust keine negativen Auswirkungen haben wird. Also.« Unbewusst machte er eine seltsame Handbewegung, wie beim Händewaschen. »Dann wollen wir mal loslegen.«
Da erst brachte ich seine Worte und die kurze Untersuchung miteinander in Verbindung und verstand - dieser freundlich wirkende Mann, der mir gerade versprochen hatte, mir nicht wehzutun, war der Doktor.
Onkel Jeb seufzte tief und schloss die Augen.
Der Doktor streckte mir auffordernd seine Hand entgegen. Ich ballte meine hinter dem Rücken zu Fäusten. Er sah mich erneut aufmerksam an und las die Angst in meinem Blick. Sein Lächeln erstarb, aber er wirkte nicht böse. Er überlegte, was er jetzt tun sollte.
»Kyle, Ian?«, rief er und wandte den Kopf, um die versammelte Menge nach den beiden abzusuchen. Mein Herz begann zu klopfen, als sich die großen, schwarzhaarigen Brüder nach vorne schoben.
»Ich glaube, ich brauche Hilfe«, sagte der Doktor, der neben Kyle nicht mehr ganz so groß wirkte. »Wenn ihr sie vielleicht tragen ...«
»Nein.«
Alle drehten sich in die Richtung, aus der der Widerspruch gekommen war. Ich musste eigentlich nicht hinsehen, da ich die Stimme erkannt hatte. Trotzdem blickte ich ihn an.
Jareds Brauen bildeten ein steiles Dreieck über seinen Augen; sein Mund war seltsam verzerrt. So viele verschiedene Emotionen spiegelten sich in seinem Gesichtsausdruck wider, dass es schwierig war, eine davon zu isolieren. Wut, Trotz, Verwirrung, Hass, Angst ... Schmerz.
Der Doktor blinzelte, vor Überraschung entglitten ihm seine Gesichtszüge. »Jared? Gibt's irgendein Problem?«
»Ja.«
Alle warteten. Neben mir schien Jeb seine Mundwinkel mit Mühe davon abzuhalten, sich zu einem Grinsen zu verziehen. Wenn das stimmte, hatte der alte Mann einen eigenartigen Sinn für Humor.
»Und das wäre?«, fragte der Doktor.
Jared antwortete mit zusammengebissenen Zähnen. »Ich sage dir, was das Problem ist, Doc. Was macht es für einen Unterschied, ob wir dir dieses Wesen überlassen oder Jeb ihm eine Kugel durch den Kopf jagt?«
Ich zitterte. Jeb tätschelte meinen Arm.
Der Doktor blinzelte erneut. »Na ja« war alles, was er sagte.
Jared beantwortete seine Frage selbst. »Der Unterschied ist: Wenn Jeb es umbringt, stirbt es wenigstens einen schnellen Tod.«
»Jared«, sagte der Doktor mit sanfter Stimme, mit demselben Unterton wie zuvor mir gegenüber. »Wir lernen jedes Mal so viel Neues dazu. Vielleicht klappt es diesmal ...«
»Pah!«, schnaubte Jared. »Ich kann nicht viele Fortschritte erkennen, Doc.«
Jared wird uns beschützen, dachte Melanie leise.
Es fiel mir schwer, mich so weit zu konzentrieren, dass ich Wörter bilden konnte. Nicht uns, nur unseren Körper.
Immerhin ... Ihre Stimme schien von weit her zu kommen, von außerhalb meines hämmernden Schädels.
Sharon machte einen Schritt nach vorn, so dass sie, wie um ihn zu beschützen, halb vor dem Doktor zu stehen kam.
»Wir sollten keine Gelegenheit verschenken«, sagte sie scharf. »Uns allen ist klar, dass das hart für dich ist, Jared, aber letzten Endes ist es nicht deine Entscheidung. Wir müssen abwägen, was das Beste für uns alle ist.«