Ich werde bestimmt nicht darum bitten! Beim Gedanken an die Reaktion, die diese Bitte auslösen würde, schauderte ich.
Gleichzeitig sehnte ich mich selbst danach, das Gesicht des Jungen zu sehen. Ich wollte sicher sein, dass er wirklich hier war, wirklich in Sicherheit - dass sie ihm zu essen gaben und für ihn sorgten, so wie Melanie es nie wieder würde tun können. So wie ich, die selbst keine Kinder hatte, für ihn sorgen wollte. Gab es jemanden, der ihm beim Schlafengehen etwas vorsang? Ihm Geschichten erzählte? Würde dieser neue, wütende Jared an diese kleinen Dinge denken? Gab es jemanden, in dessen Arm er sich schmiegen konnte, wenn er Angst hatte?
Glaubst du, sie werden ihm sagen, dass ich hier bin?, fragte Melanie.
Würde ihm das helfen oder wehtun?, fragte ich zurück.
Ihr Gedanke war nur ein Flüstern. Ich weiß nicht ... Ich wünschte, ich könnte ihm sagen, dass ich mein Versprechen gehalten habe.
Das hast du allerdings. Ich schüttelte den Kopf - ungläubig, bewundernd. Es kann dir niemand vorwerfen, dass du nicht zurückgekommen bist, so wie immer.
Danke. Ihre Stimme war leise. Ich wusste nicht, ob sich ihr Dank auf das bezog, was ich gerade gesagt hatte, oder ob sie das große Ganze im Blick hatte, die Tatsache, dass ich sie hierhergebracht hatte.
Ich war plötzlich erschöpft und merkte, dass es ihr ähnlich ging. Jetzt wo mein Magen sich ein wenig beruhigt hatte und fast halbvoll war, erwiesen sich meine restlichen Schmerzen als nicht stark genug, um mich wach zu halten. Aus Angst, ein Geräusch zu machen, zögerte ich, bevor ich mich bewegte, aber mein Körper wollte sich auseinanderrollen und ausstrecken. Ich tat es, so leise ich konnte, und versuchte eine Stelle in der Höhle zu finden, die lang genug für mich war. Schließlich ragten meine Füße beinahe aus der runden Öffnung. Das gefiel mir nicht, da ich befürchtete, dass Jared die Bewegung neben sich hören würde und denken könnte, ich wollte fliehen, aber er reagierte überhaupt nicht. Ich bettete die heile Seite meines Gesichts auf meinen Arm, versuchte zu ignorieren, wie der unebene Boden meine Wirbelsäule verbog, und schloss die Augen.
Ich glaube, ich schlief, allerdings nicht sehr fest. Das Geräusch von Schritten war noch sehr weit entfernt, als ich bereits hellwach war.
Diesmal öffnete ich die Augen sofort. Nichts hatte sich verändert - ich konnte immer noch das gedämpfte blaue Licht durch das runde Loch sehen, aber nicht erkennen, ob Jared davor saß. Es kam jemand - es war unüberhörbar, dass die Schritte sich näherten. So leise ich konnte, zog ich meine Beine von der Öffnung weg und kauerte mich wieder an die Rückwand. Ich wäre gerne aufgestanden, dann hätte ich mich weniger verletzlich gefühlt, besser vorbereitet auf das, was jetzt kommen mochte. Aber die niedrige Decke der Höhlenblase gestattete es mir noch nicht einmal, mich hinzuknien.
Vor meinem Gefängnis war eine leise Bewegung wahrzunehmen. Ich sah ein Stück von Jareds Fuß, als er aufstand.
»Ah. Hier bist du«, sagte ein Mann. Seine Worte klangen nach der ganzen leeren Stille dermaßen laut, dass ich zusammenfuhr. Ich erkannte die Stimme. Einer der Brüder, die ich in der Wüste gesehen hatte -der mit der Machete, Kyle.
Jared sagte nichts.
»Wir werden das nicht zulassen, Jared.« Jetzt sprach jemand anders, eine besonnenere Stimme. Wahrscheinlich der jüngere Bruder, Ian. Die Stimmen der beiden Brüder ähnelten sich sehr oder hätten sich geähnelt, wenn Kyle nicht immer beinahe gebrüllt hätte vor Wut. »Wir alle haben jemanden verloren - verdammt, wir alle haben alles und jeden verloren. Aber das hier ist lächerlich.«
»Wenn du es Doc nicht überlassen willst, dann wird es sterben«, fügte Kyle knurrend hinzu.
»Du kannst es hier nicht gefangen halten«, fuhr Ian fort.
»Irgendwann wird es abhauen und man wird uns alle finden.«
Jared sagte nichts, aber er machte einen Schritt zur Seite, so dass er direkt vor dem Eingang zu meiner Zelle stand.
Mein Herz klopfte laut und schnell, als ich begriff, was die Brüder da sagten. Jared hatte gewonnen. Ich würde nicht gefoltert werden. Ich würde nicht getötet werden - zumindest nicht sofort. Jared hielt mich gefangen.
Unter den herrschenden Umständen hörte sich das wundervoll an.
Ich hab dir doch gesagt, dass er uns beschützen würde.
»Mach es uns nicht so schwer, Jared«, sagte eine weitere Stimme, die ich nicht erkannte. »Es muss sein.«
Jared schwieg.
»Wir wollen dir nicht weh tun, Jared. Wir sind hier alle wie Brüder. Aber wir werden es tun, wenn du uns dazu zwingst.« Kyle bluffte nicht. »Geh zur Seite.«
Jared blieb stehen.
Mein Herz begann noch schneller zu schlagen als vorher und klopfte so heftig gegen meine Rippen, dass das Hämmern meine Lunge aus dem Rhythmus brachte und mir das Atmen schwerfiel. Melanie war vor Angst erstarrt, unfähig, einen klaren Gedanken zu fassen. Sie würden ihm wehtun. Diese durchgeknallten Menschen würden einen der Ihren angreifen.
»Jared ... bitte«, sagte Ian.
Jared antwortete nicht.
Ein großer Schritt - ein Sprung - und das Geräusch von etwas Schwerem, das auf etwas Festes traf. Ein Keuchen, ein ersticktes Gurgeln ...
»Nein!«, rief ich und stürzte auf das runde Loch zu.
Zugewiesen
Die Kante des Felsenausgangs war abgenutzt, aber trotzdem schürfte ich mir die Handflächen und die Schienbeine daran auf, als ich hindurchkletterte. Ich war so steif, dass mir alles wehtat, als ich mich ruckartig aufrichtete. Mir blieb die Luft weg und mein Kopf begann sich zu drehen, als mir das Blut in die Beine sackte.
Mich interessierte nur eines - wo Jared war, damit ich mich zwischen ihn und seine Angreifer stellen konnte.
Niemand rührte sich und alle starrten mich an. Jared stand mit dem Rücken zur Wand, er hatte die Fäuste geballt und hielt sie gesenkt. Kyle stand vornübergebeugt vor ihm und hielt sich den Magen; etwas dahinter, links und rechts von ihm, sah ich mit vor Schreck offenen Mündern Ian und einen Fremden. Ich nutzte ihre Überraschung aus. Mit zwei großen, schwankenden Schritten war ich zwischen Kyle und Jared.