Wenn wir an den neuen Planeten dachten - die Erde, so trocken, so abwechslungsreich und bevölkert von derart gewalttätigen, zerstörerischen Bewohnern, dass wir sie uns kaum vorstellen konnten -, wurde unser Entsetzen manchmal von unserer Aufregung überdeckt. Schnell rankten sich Geschichten um das spannende neue Thema. Die Kriege - Kriege! Unsere Spezies war gezwungen zu kämpfen! - wurden erst genau beschrieben und später ausgeschmückt und in Geschichten verwandelt. Wenn die Erzählungen nicht mit den offiziellen Informationen, die ich ausfindig machte, übereinstimmten, glaubte ich natürlich den früheren Berichten.
Aber es gab Gerüchte: von menschlichen Wirten, die so stark waren, dass die Seele gezwungen war, sie zu verlassen. Wirte, deren Geist nicht vollständig unterdrückt werden konnte. Seelen, die eher die Persönlichkeit des Körpers annahmen als umgekehrt. Geschichten. Wilde Gerüchte. Verrücktheiten.
Aber etwas Ähnliches schien der Heiler dieser Sucherin zu unterstellen ...
Ich verwarf den Gedanken. Der wahrscheinlichste Grund für diese Unterstellung war die Abneigung, die die meisten von uns den Suchern entgegenbrachten. Wer entschied sich schon für ein Leben voller Kampf und Verfolgung? Wen reizte die Aufgabe, unwillige Wirte ausfindig zu machen und sie gefangen zu nehmen? Wer konnte es ertragen, sich mit der ausgeprägten Gewalttätigkeit dieses speziellen Wirts abzugeben, dieser feindseligen Menschen, die so leichtfertig, so gedankenlos töteten? Hier auf diesem Planeten waren die Sucher praktisch zu einer Art ... Miliz geworden - mein Gehirn versorgte mich mit dem Begriff für den ungewohnten Gedanken. Die meisten von uns glaubten, dass nur die Seelen, die am wenigsten zivilisiert waren, am wenigsten entwickelt, die Niederen unter uns, den Weg eines Suchers einschlugen.
Allerdings hatten die Sucher auf der Erde neues Ansehen gewonnen. Noch nie zuvor war eine Besetzung so aus dem Ruder gelaufen, noch nie zuvor hatte sie sich zu so einer erbitterten und blutigen Schlacht entwickelt und noch nie zuvor waren so viele Seelen ums Leben gekommen. Die Sucher bildeten einen mächtigen Schild und die Seelen dieser Welt hatten dreifach Grund, ihnen dankbar zu sein: für die Sicherheit, die sie erkämpft hatten; für das Risiko, endgültig zu sterben, das sie freiwillig jeden Tag von Neuem eingingen; und für die ausgewachsenen Wirtskörper, die sie immer noch beschafften.
Jetzt, wo die Gefahr fast gebannt war, schien die Dankbarkeit jedoch nachzulassen. Und das war zumindest für diese Sucherin hier unangenehm.
Es war nicht schwierig, sich vorzustellen, was sie mich fragen würde. Auch wenn der Heiler versuchte, mir Zeit zu verschaffen, um mich an meinen neuen Körper zu gewöhnen, wusste ich, dass ich mein Bestes tun würde, um der Sucherin zu helfen. Der Dienst an der Allgemeinheit war eine wichtige Aufgabe im Leben jeder Seele.
Also atmete ich tief durch, um mich darauf vorzubereiten. Der Monitor registrierte die Bewegung. Ich merkte, dass ich ein bisschen Zeit zu schinden versuchte. Ich gestand es mir nur ungern ein, aber ich hatte Angst. Um die Informationen zu liefern, die die Sucherin brauchte, würde ich die grausamen Erinnerungen durchsuchen müssen, die mich vor Entsetzen hatten aufschreien lassen. Noch mehr Angst hatte ich vor der Stimme, die ich so laut in meinem Kopf gehört hatte. Aber jetzt war sie stumm, so wie es sein sollte. Sie war auch nicht mehr als eine Erinnerung.
Ich brauchte keine Angst zu haben. Schließlich hieß ich jetzt Wanderer. Und ich verdiente diesen Namen.
Ich atmete noch einmal tief durch und tauchte in die Erinnerung ein, die mir Angst gemacht hatte, stellte mich ihr mit zusammengebissenen Zähnen.
Ich ließ das Ende noch einmal Revue passieren - diesmal überwältigte es mich nicht. Im Schnelldurchlauf rannte ich erneut wimmernd durch die Dunkelheit und versuchte nichts zu fühlen. Es war schnell vorbei.
Sobald ich diese Hürde erst einmal genommen hatte, war es nicht schwierig, sich an weniger erschreckenden Dingen und Orten vorbeitreiben zu lassen, auf der Suche nach der Information, die ich brauchte. Ich sah, wie sie in diese kalte Stadt gekommen war, nachts in einem gestohlenen Auto, das sie wegen seines unauffälligen Aussehens ausgewählt hatte. Sie war im Dunkeln durch die Straßen Chicagos gegangen und hatte unter ihrem Mantel gezittert.
Sie war selbst auf der Suche. Es gab noch andere wie sie, oder zumindest hoffte sie das. Eine Bestimmte. Eine Freundin ... nein, eine Verwandte. Keine Schwester ... eine Cousine.
Die Worte kamen immer langsamer und zunächst verstand ich nicht, warum. Hatte sie das hier vergessen? War es durch das Trauma des nahenden Todes verschüttet? War ich noch benom- men von der Narkose? Ich gab mir Mühe, einen klaren Gedanken zu fassen. Dieses Gefühl war ungewohnt. War mein Körper noch betäubt? Ich fühlte mich ziemlich wach, aber mein Geist kramte erfolglos nach der Auskunft, die ich suchte.
In der Hoffnung auf klarere Antworten probierte ich einen anderen Weg aus. Was hatte sie vorgehabt? Sie wollte ... Sharon - ich hatte den Namen herausgefischt -finden und sie würden ...
Ich stieß gegen eine Mauer.
Da war Leere, ein Nichts. Ich versuchte es zu umgehen, konnte aber den Rand der Leerstelle nicht finden. Als wäre die Information, die ich suchte, ausgelöscht worden.
Als wäre dieses Gehirn beschädigt worden.
Heiße, wilde Wut durchfuhr mich. Überrascht von der uner- warteten Reaktion schnappte ich nach Luft. Ich hatte von der emotionalen Labilität dieser menschlichen Körper gehört, aber das hier übertraf meine Vorstellungen. In acht Leben war ich noch nie von einem so heftigen Gefühl überwältigt worden.
Ich spürte, wie das Blut durch meinen Hals pulsierte und in meinen Ohren rauschte. Meine Hände ballten sich zu Fäusten.
Die Apparate neben mir zeichneten die Beschleunigung meines Herzschlags auf. Diesmal wurde im Raum darauf reagiert: Das energische Klappern, das von den Absätzen der Sucherin stammte, kam näher, vermischt mit einem leiseren Schlurfen, das von dem Heiler stammen musste.
»Willkommen auf der Erde, Wanderer«, sagte die Frauenstimme.
Widersetzt
»Der neue Name sagt ihr vermutlich noch nichts«, murmelte der Heiler.
Eine neue Wahrnehmung lenkte mich ab. Etwas Angenehmes, eine Veränderung in der Luft, seit die Sucherin neben mir stand. Ein Geruch, wie mir klarwurde. Ich roch etwas anderes als das sterile, geruchlose Zimmer. Parfüm, ließ mich mein neuer Verstand wissen. Blumig, intensiv ...
»Können Sie mich hören?«, fragte die Sucherin und unterbrach damit meine Überlegungen. »Sind Sie bei Bewusstsein?«
»Lassen Sie sich Zeit«, mahnte der Heiler mit sanfterer Stimme als vorher.
Ich öffnete die Augen nicht. Ich wollte nicht abgelenkt werden. Mein Verstand gab mir die Wörter ein, die ich brauchte, und den Tonfall, der vermitteln würde, was ich sonst nur mit vielen Worten hätte sagen können.
»Bin ich in einen beschädigten Wirt eingesetzt worden, damit Sie die Informationen bekommen, die Sie brauchen, Sucherin?«
Ein Keuchen war zu hören, in dem sich Überraschung mit Ärger mischte, und etwas Warmes berührte meine Haut, bedeckte meine Hand.
»Natürlich nicht, Wanderer«, sagte der Mann besänftigend.
»Vor manchen Dingen schrecken sogar Sucher zurück.«
Die Sucherin keuchte erneut. Schnaubte, korrigierte mein Verstand.
»Und warum funktioniert dieses Gehirn dann nicht richtig?« Eine Pause entstand.
»Die Scans waren perfekt«, sagte die Sucherin. Ihre Worte waren nicht besänftigend, sondern sie verteidigte sich. Wollte sie mit mir streiten? »Der Körper war vollkommen geheilt.«
»Von einem Selbstmordversuch, der beinahe erfolgreich verlaufen wäre.« Mein Tonfall war spitz, immer noch ärgerlich. Ich war nicht an Ärger gewöhnt. Es war schwer, ihn zu unterdrücken.
»Es war alles vollkommen in Ordnung ...«
Der Heiler unterbrach sie. »Was fehlt denn?«, fragte er. »Zur Sprache haben Sie ja offensichtlich Zugang.«