Jeb tippte Kyle mit dem Lauf des Gewehrs an die Brust und deutete dann damit in Richtung des Gangs hinter ihm. »Verschwindet. Ich will euch hier in der Nähe nicht mehr sehen. Ihr könnt allen sagen, dass dieser Gang tabu ist. Niemand außer Jared hat Grund, hier zu sein, und wenn ich irgendjemanden dabei erwische, wie er hier herumschleicht, werde ich nicht erst lang Fragen stellen. Ist das klar? Los jetzt.« Er stieß Kyle wieder mit dem Gewehr an.
Ich war erstaunt, dass die drei Mörder unverzüglich den Rückzug durch den Gang antraten und Jeb oder mir zum Abschied noch nicht einmal einen bösen Blick zuwarfen.
Ich wollte gerne glauben, dass Jeb mit dem Gewehr in seiner Hand nur bluffte.
Seit unserer ersten Begegnung hatte er immer freundlich gewirkt. Er hatte mich kein einziges Mal brutal angefasst; er hatte mich noch nicht einmal feindselig angesehen. Jetzt schien es sogar, als sei er einer von nur zwei Leuten hier, die mir nichts Böses wollten. Jared hatte sich zwar auf einen Kampf eingelassen, um mich zu beschützen, aber es war offensichtlich, dass ihm diese Entscheidung alles andere als leichtgefallen war. Ich spürte, dass er jederzeit seine Meinung ändern konnte. Seine Miene machte deutlich, dass ein Teil von ihm das alles gerne hinter sich gebracht hätte - besonders jetzt, wo Jeb ihm die Entscheidung aufgehalst hatte.
Während ich zu diesem Schluss gelangte, starrte mich Jared voller Abscheu an.
Obwohl ich gerne geglaubt hätte, dass Jeb nur bluffte, wurde mir klar, dass das nicht sein konnte, als ich zusah, wie die drei Männer sich von mir abwandten und in der Dunkelheit verschwanden. Unter seiner netten Oberfläche musste Jeb genauso mörderisch und brutal sein wie alle anderen. Wenn er das Gewehr in der Vergangenheit nicht schon benutzt hatte - und zwar zum Töten und nicht nur, um jemanden zu bedrohen -, hätte er sich damit nicht solchen Respekt verschaffen können.
Schlimme Zeiten, flüsterte Melanie. In der Welt, die ihr geschaffen habt, können wir uns nicht zivilisiert verhalten. Wir sind Flüchtlinge, eine bedrohte Spezies. Für uns geht es immer um Leben und Tod.
Psst. Ich habe jetzt keine Zeit für Diskussionen. Ich muss mich konzentrieren.
Jared hatte eine Hand mit der Handfläche nach oben ausgestreckt und sah Jeb an. Jetzt, wo die anderen weg waren, wich die Anspannung aus ihren Körpern. Jeb grinste sogar unter seinem dichten Bart, als hätte er die Auseinandersetzung mit gezücktem Gewehr genossen. Seltsamer Mensch.
»Bitte tu mir das nicht an, Jeb«, sagte Jared. »In einem Punkt hat Kyle Recht - ich kann wirklich keine objektive Entscheidung treffen.«
»Wer sagt denn, dass du dich jetzt schon entscheiden musst? Sie läuft uns ja nicht weg.« Jeb warf mir, immer noch grinsend, einen Blick zu. Das Auge, das mir am nächsten war - und das Jared nicht sehen konnte -, ging blitzschnell zu und wieder auf. Ein Zwinkern. »Nicht nach allem, was sie auf sich genommen hat, um hierherzukommen. Du hast genug Zeit, dir die Sache in Ruhe zu überlegen.«
»Da gibt es nichts zu überlegen. Melanie ist tot. Aber ich kann es nicht ... ich kann es nicht ... Jeb, ich kann es nicht einfach ...« Jared war nicht in der Lage, den Satz zu beenden.
Sag's ihm.
Ich bin noch nicht bereit zu sterben.
»Dann denk erst mal nicht darüber nach«, sagte Jeb.
»Vielleicht fällt dir später was ein. Lass dir Zeit.«
»Aber was machen wir damit? Wir können es doch nicht rund um die Uhr bewachen.«
Jeb schüttelte den Kopf. »Genau das werden wir eine Zeit lang tun müssen. Die Wogen werden sich glätten. Nicht mal Kyle kann seinen mörderischen Zorn wochenlang am Leben erhalten.«
»Wochenlang? Wir können es uns nicht leisten, wochenlang hier unten Wache zu schieben. Wir haben anderes ...«
»Ich weiß, ich weiß.« Jeb seufzte. »Mir fällt schon was ein.« »Und das ist noch nicht alles.« Jared sah mich erneut an; die
Ader auf seiner Stirn pochte. »Wo halten wir es gefangen? Wir haben ja schließlich keinen Gefängnistrakt oder so was.«
Jeb lächelte auf mich herunter. »Du machst uns doch keinen Ärger, oder?«
Ich sah ihn stumm an.
»Jeb«, murmelte Jared aufgebracht.
»Mach dir ihretwegen keine Sorgen. Erstens werden wir ein Auge auf sie haben. Zweitens wird sie niemals den Weg nach draußen finden - sie würde herumirren, bis irgendjemand sie aufgreift. Was uns zu drittens bringt: So blöd ist sie nicht.« Er hob eine seiner dichten, weißen Augenbrauen. »Du wirst nicht nach Kyle oder den anderen suchen, hab ich Recht? Ich glaube, sie mögen dich nicht besonders.«
Ich sah ihn bloß an, auf der Hut vor seinem umgänglichen Plauderton.
»Es wäre mir lieber, du würdest nicht so mit diesem Wesen reden«, murmelte Jared.
»Ich bin nun mal in höflicheren Zeiten aufgewachsen, Junge. Ich kann's nicht ändern.« Jeb legte eine Hand auf Jareds Ann und tätschelte ihn leicht. »Na, komm, du hast eine anstrengende Nacht hinter dir. Lass mich die nächste Wache übernehmen. Geh schlafen.«
Jared sah aus, als wollte er widersprechen, aber dann warf er mir wieder einen Blick zu und seine Miene versteinerte.
»Wie du willst, Jeb. Und ... ich will... ich werde die Verantwortung für dieses Wesen nicht übernehmen. Bring es um, wenn du es für richtig hältst.«
Ich zuckte zusammen.
Jared runzelte die Stirn über meine Reaktion, dann drehte er sich unvermittelt um und verschwand auf demselben Weg wie die anderen vorhin. Jeb sah ihm hinterher. Während er abgelenkt war, kroch ich zurück in mein Loch.
Ich hörte, wie Jeb sich langsam neben der Öffnung auf dem Boden niederließ. Er seufzte und streckte sich, wobei er ein paar Gelenke knacken ließ. Nach ein paar Minuten begann er leise zu pfeifen. Es war eine fröhliche Melodie.
Ich umschlang meine Knie und drückte mich in den letzten Winkel der kleinen Zelle. Es lief mir eiskalt den Rücken hoch und runter. Meine Hände zitterten und trotz der feuchten Hitze klapperte ich mit den Zähnen.
»Man könnte sich eigentlich auch hinlegen und ein bisschen schlafen«, sagte Jeb - ich war nicht sicher, ob zu mir oder zu sich selbst. »Morgen wird ein anstrengender Tag.«
Nach einer Weile - vielleicht einer halben Stunde - ließ das Zittern nach. Ich war vollkommen erschöpft und beschloss, Jebs Rat zu folgen. Obwohl der Boden noch unbequemer schien als vorher, war ich bereits nach wenigen Sekunden eingeschlafen.
Der Geruch nach Essen weckte mich. Diesmal war ich wirklich benommen und desorientiert, als ich die Augen öffnete. Ein instinktives Angstgefühl ließ meine Hände schon wieder zittern, noch bevor ich ganz bei Bewusstsein war. Das gleiche Tablett mit der gleichen Mahlzeit stand neben mir. Ich konnte Jeb sowohl sehen als auch hören. Er saß seitlich vor der Höhle, sah geradeaus den langen gewölbten Gang entlang und pfiff leise vor sich hin.
Von meinem unerträglichen Durst angetrieben, setzte ich mich auf und griff nach der offenen Wasserflasche.
»Morgen«, sagte Jeb und nickte mir zu.