»Beruhig dich, Jared«, sagte Jeb müde. Er nahm das Gewehr wieder in die Hand. »Sie würde das Ding hier nicht anrühren, selbst wenn ich sie die ganze Nacht damit allein ließe. Merkst du das nicht?« Er zeigte mit dem Gewehrlauf auf mich und ich fuhr zurück. »Das ist keine Sucherin.«
»Halt die Klappe, Jeb, halt einfach die Klappe!«
»Lass ihn in Ruhe«, brüllte Jamie. »Er hat gar nichts getan.« »Du!«, brüllte Jared zurück und wandte sich dem schmächtigen, wütenden Jungen zu. »Du verschwindest jetzt sofort von hier oder ich weiß nicht, was ich tue!« Jamie hob die Fäuste und wich nicht von der Stelle. Jared hob ebenfalls die Fäuste.
Ich war vor Schreck erstarrt. Wie konnten sie sich nur derart anschreien? Sie waren doch eine Familie, ihre Bindung stärker als jegliche Blutsbande. Jared würde Jamie doch nicht schlagen - das konnte er nicht tun! Ich wollte etwas unternehmen, wusste aber nicht, was. Alles, was ihre Aufmerksamkeit auf mich lenkte, würde sie nur noch wütender machen.
Melanie war ausnahmsweise einmal ruhiger als ich. Er kann Jamie gar nicht wehtun, dachte sie zuversichtlich. Das ist unmöglich.
Ich sah, wie sie sich feindselig gegenüberstanden, und verfiel in Panik.
Wir hätten nie herkommen sollen. Sieh doch nur, wie unglücklich wir sie gemacht haben, klagte ich.
»Du hättest das nicht vor mir geheim halten dürfen«, sagte Jamie mit zusammengebissenen Zähnen. »Und du hättest ihr nicht wehtun dürfen.« Eine seiner Hände öffnete sich und zeigte auf mein Gesicht.
Jared spuckte auf den Boden. »Das ist nicht Melanie. Melanie kommt nie mehr zurück, Jamie.«
»Das ist ihr Gesicht«, beharrte Jamie. »Und ihr Hals. Machen dir die blauen Flecken dort gar nichts aus?«
Jared ließ die Hände sinken. Er schloss die Augen und atmete tief durch. »Entweder du gehst jetzt sofort, Jamie, und lässt mich allein, oder ich werde dafür sorgen, dass du gehst. Das sind keine leeren Drohungen. Ich kann jetzt nicht noch mehr ertragen, klar? Ich bin mit den Nerven am Ende. Können wir dieses Gespräch also bitte später fortsetzen?« Er schlug die Augen wieder auf; sie waren schmerzerfüllt.
Jamie sah ihn an und die Wut verschwand langsam aus seinem Gesicht. »Entschuldige«, murmelte er nach einer Weile. »Ich gehe ... aber ich verspreche dir nicht, dass ich nicht wiederkomme.«
»Darüber kann ich jetzt nicht nachdenken. Geh jetzt. Bitte.« Jamie zuckte mit den Schultern. Er warf mir noch einen forschenden Blick zu, dann ging er. Seine schnellen, großen Schritte machten mir erneut schmerzhaft bewusst, wie viel Zeit mir entgangen war.
Jared sah Jeb an. »Du auch«, sagte er leise.
Jeb verdrehte die Augen. »Ehrlich gesagt habe ich nicht den Eindruck, dass du dich lange genug ausgeruht hast. Ich werde sie im Auge ...«
»Geh bitte.«
Jeb runzelte nachdenklich die Stirn. »Okay. Klar.« Er ging den Gang hinunter.
»Jeb?«, rief Jared ihm hinterher. »Ja?«
»Wenn ich dich bitten würde, es jetzt sofort zu erschießen, würdest du es tun?«
Jeb ging langsam weiter, ohne uns anzusehen, aber seine Worte waren deutlich zu verstehen. »Das müsste ich. Ich halte mich an meine eigenen Regeln. Also bitte mich nicht darum, außer es ist dir wirklich ernst.«
Er verschwand hinter der dunklen Kurve.
Jared sah ihm nach. Bevor er mir einen finsteren Blick zuwerfen konnte, kroch ich in mein kleines Schlupfloch und kauerte mich in die hinterste Ecke.
Gelangweilt
Den Rest des Tages verbrachte ich in fast völligem Schweigen. Die einzige Ausnahme war Jeb, der Jared und mir ein paar Stunden später etwas zu essen brachte. Als er das Tablett im Eingang meiner winzigen Höhle absetzte, lächelte er mich entschuldigend an.
»Danke«, flüsterte ich.
»Gern geschehen«, erwiderte er.
Ich hörte, wie Jared knurrte. Unser kurzer Wortwechsel ärgerte ihn offenbar.
Das war das einzige Geräusch, das Jared während des ganzen Tages von sich gab. Ich war sicher, dass er da draußen war, hörte aber noch nicht einmal einen Atemzug, der diese Vermutung bestätigen konnte.
Es war ein furchtbar langer Tag - furchtbar beengt und furchtbar eintönig. Ich probierte jede nur erdenkliche Stellung aus, aber es gelang mir nie, mich komplett auszustrecken. Mir tat ständig der Rücken weh.
Melanie und ich dachten viel über Jamie nach. Wir fürchteten, ihm durch unser Herkommen geschadet zu haben, ihn zu verletzen. Was zählte verglichen damit schon ein gehaltenes Versprechen?
Zeit hatte jede Bedeutung verloren. Ob die Sonne gerade unterging oder der Morgen dämmerte - hier unter der Erde bekam ich davon nicht das Geringste mit. Melanie und mir ging der Gesprächsstoff aus. Teilnahmslos zappten wir durch unsere gemeinsamen Erinnerungen wie durch Fernsehprogramme, ohne uns irgendetwas genauer anzusehen. Ich döste ein bisschen, schlief aber nicht richtig ein, weil es so unbequem war. Als Jeb endlich zurückkam, hätte ich sein ledriges Gesicht küssen können. Er steckte den Kopf durch den Eingang und grinste über beide Ohren.
»Zeit für den nächsten Gang?«, fragte er mich. Ich nickte eifrig.
»Ich mach das schon«, knurrte Jared. »Gib mir das Gewehr.« Ich zögerte, verrenkt im Durchschlupf zu meiner Höhle kauernd, bis Jeb mir zunickte. »Auf geht's«, sagte er.
Steif und schwankend kletterte ich hinaus. Ich nahm die Hand, die Jeb mir entgegenstreckte, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Jared machte ein angewidertes Geräusch und sah weg. Er hielt das Gewehr so fest umklammert, dass seine Fingerknöchel weiß wurden. Der Anblick der Waffe in seiner Hand gefiel mir nicht. Er beunruhigte mich stärker als bei Jeb. Jared machte keine Zugeständnisse, so wie Jeb. Ohne auf mich zu warten, stapfte er los in den dunklen Tunnel hinein. Es war schwierig, ihm zu folgen. Er machte kaum Geräusche und er führte mich nicht, deshalb hielt ich beim Gehen eine Hand vor meinem Gesicht ausgestreckt und die andere legte ich an die Wand, damit ich nicht gegen den Fels lief. Ich stürzte auf dem unebenen Boden zweimal. Er half mir zwar nicht beim Aufstehen, wartete aber, bis er hören konnte, dass ich wieder auf die Füße gekommen war. Als wir durch einen geraderen Abschnitt des Gangs liefen, kam ich ihm einmal zu nah und berührte mit meiner suchend ausgestreckten Hand seinen Rücken, befühlte die Form seiner Schultern, bis ich bemerkte, dass es keine Wand war, an die ich da stieß. Er machte einen Satz nach vorn und entzog sich meinen Fingern mit einem wütenden Zischen.
»Entschuldigung«, murmelte ich und spürte, wie meine Wangen in der Dunkelheit zu glühen begannen.
Er antwortete nicht, ging jedoch schneller, so dass es noch schwieriger war, ihm zu folgen.
Ich war verwirrt, als schließlich ein schwacher Lichtschein vor uns auftauchte. Waren wir eine andere Strecke gegangen? Dies war nicht das weiße Strahlen aus der großen Höhle. Das Licht war gedämpft, blass und silbrig. Aber der schmale Spalt, durch den wir mussten, schien derselbe zu sein ... Erst als ich in dem riesigen, hallenden Raum stand, wurde mir klar, woher der Unterschied rührte.
Es war Nacht und das Licht, das matt von oben hereinschien, ähnelte eher dem Licht des Mondes als dem der Sonne.
Jetzt, wo das Licht nicht so blendete, nutzte ich die Gelegenheit, mir die Decke anzusehen und zu versuchen, ihr Geheimnis zu entschlüsseln. Es sah aus, als beleuchteten hundert kleine Monde von hoch oben, ganz weit über mir, mit ihrem schwachen Licht den dunklen Boden hier unten. Die kleinen Monde waren in unregelmäßigen Grüppchen über die Decke verstreut, manche weiter entfernt als andere. Ich schüttelte den Kopf. Auch wenn ich das Licht jetzt direkt ansehen konnte, verstand ich immer noch nicht, woher es kam.