»Komm schon«, rief Jared ärgerlich, der mir schon mehrere Schritte voraus war.
Ich zuckte zusammen und ging schnell weiter. Es tat mir leid, dass ich mich hatte ablenken lassen. Ich konnte sehen, wie sehr es ihn aufbrachte, mit mir reden zu müssen.
Diesmal erwartete ich nicht die Hilfe einer Taschenlampe, als wir den Raum mit den Flüssen erreichten - und bekam sie auch nicht. Der Raum war ebenfalls schwach erleuchtet, wie die große Höhle, aber nur von gut zwanzig Miniaturmonden. Jared starrte die Decke an, während ich zögernd den Raum mit dem pechschwarzen Becken betrat. Wahrscheinlich würde er es als glückliche Fügung des Schicksals ansehen, wenn ich in den tosenden unterirdischen Fluss stolperte und verschwand.
Ich glaube, er wäre traurig, widersprach Melanie mir, als ich mich an der Wand entlang durch das finstere Badezimmer tastete. Wenn wir reinfallen würden.
Das bezweifle ich. Vielleicht würde es ihn an den Schmerz erinnern, den er empfunden hat, als er dich zum ersten Mal verlor, aber er wäre froh, wenn ich verschwände.
Weil er dich nicht kennt, flüsterte Melanie und zog sich dann zurück, als wäre sie plötzlich erschöpft.
Überrascht blieb ich stehen. Ich war mir nicht ganz sicher, aber es schien fast so, als hätte mir Melanie gerade ein Kompliment gemacht.
»Beeil dich«, bellte Jared aus dem anderen Raum.
Ich machte so schnell, wie die Dunkelheit und meine Angst es zuließen.
Als wir zurückkehrten, wartete Jeb neben der blauen Lampe auf uns; zu seinen Füßen konnte ich zwei zerknautschte Rollen und zwei unregelmäßige Rechtecke ausmachen. Ich hatte sie vorher nicht bemerkt. Vielleicht war er sie holen gegangen, während wir weg gewesen waren.
»Schläfst du heute Nacht hier oder ich?«, fragte Jeb beiläufig.
Jared warf einen Blick auf die Sachen zu Jebs Füßen.
»Ich«, antwortete er kurz angebunden. »Und ich brauche nur eine Matte.«
Jeb hob eine dichte Augenbraue.
»Es gehört nicht zu uns, Jeb. Du hast mir die Verantwortung übertragen - also halt dich da raus.«
»Sie ist aber auch kein Tier, Junge. Und du würdest noch nicht mal einen Hund so behandeln.«
Jared antwortete nicht.
»Ich habe dich nie für einen grausamen Menschen gehalten«, sagte Jeb sanft. Aber er hob eine der Rollen auf, schob seinen Arm durch den Trageriemen und hängte sie sich über die Schulter, dann klemmte er sich das Rechteck -ein Kissen -unter den Arm.
»Tut mir leid, Kleines«, sagte er, als er an mir vorbeikam und tätschelte mir die Schulter.
»Komm, lass das!«, knurrte Jared.
Jeb zuckte mit den Schultern und schlenderte davon. Noch bevor er außer Sicht war, verschwand ich schnell in meiner Zelle; ich versteckte mich in der dunkelsten Ecke und rollte mich zu einer kleinen Kugel zusammen, die hoffentlich niemand bemerken würde.
Anstatt lautlos und unsichtbar draußen im Tunnel Wache zu halten, breitete Jared seine Matte genau vor dem Eingang zu meiner Zelle aus. Er schüttelte sein Kissen ein paarmal auf, vermutlich um mir unter die Nase zu reiben, dass er eins hatte. Dann legte er sich auf die Unterlage und verschränkte die Arme vor der Brust. Das war der Teil von ihm, den ich durch das Loch sehen konnte - die verschränkten Arme und ein Stück von seinem Bauch.
Seine Haut war von demselben Goldbraun, das mich während des letzten halben Jahres in meinen Träumen heimgesucht hatte. Es war sehr seltsam, diesen Teil meines Traums ganz real nur anderthalb Meter vor mir zu haben. Surreal.
»Glaub nicht, dass du an mir vorbeischleichen kannst«, warnte er mich. Seine Stimme klang sanfter als vorhin - schläfrig. »Wenn du es versuchst...«, er gähnte, »... bringe ich dich um.
Ich antwortete nicht. Die Warnung kam mir wie eine Beleidigung vor. Wieso sollte ich versuchen, an ihm vorbeizuschleichen? Wo sollte ich denn hin? Mich in die Hände der Barbaren begeben, die da draußen auf mich warteten und sich alle wünschten, ich würde genau so einen bescheuerten Versuch unternehmen? Oder sollte ich - angenommen, ich käme irgendwie an ihnen vorbei - zurück da raus in die Wüste, die mich bei meinem letzten Versuch, sie zu durchqueren, beinahe zu Tode gegrillt hatte? Was glaubte er eigentlich, wozu ich fähig war? Was für einen Plan heckte ich seiner Meinung nach aus, um ihre kleine Welt zu zerstören? Machte ich wirklich einen so mächtigen Eindruck? War es nicht überdeutlich, wie jämmerlich hilflos ich war?
Ich merkte, dass er fest schlief, als er zu zucken begann. Melanie erinnerte sich, dass er das im Schlaf immer dann tat, wenn ihn etwas aufregte. Ich sah, wie seine Finger sich verkrampften und wieder lösten, und fragte mich, ob er träumte, er hätte sie um meinen Hals gelegt.
Die folgenden Tage - vielleicht eine Woche, es war unmöglich, den Überblick zu behalten - verliefen sehr ruhig. Jared war eine schweigende Mauer zwischen mir und allem anderen auf der Welt, dem Guten und Schlechten. Ich hörte nichts außer meinem eigenen Atem, meinen eigenen Bewegungen; ich sah nichts außer der schwarzen Höhle um mich herum, dem Kreis aus gedämpftem Licht, dem vertrauten Tablett mit den immer gleichen Mahlzeiten, den kurzen Blicken auf Jared, die ich erhaschen konnte; ich spürte nichts außer den spitzen Steinen auf meiner Haut; ich schmeckte nichts außer dem bitteren Wasser, dem harten Brot, der faden Suppe, den holzigen Wurzeln, immer und immer wieder.
Es war eine überaus eigenartige Kombination: die ständige Angst, der ununterbrochene körperliche Schmerz und die entsetzliche Eintönigkeit. Von allen dreien war die tödliche Langeweile am schwersten zu ertragen. Mein Gefängnis war eine Isolationszelle, in der ich von jeglichen Sinneseindrücken abgeschnitten war.
Melanie und ich machten uns beide Sorgen, dass wir verrückt wurden.
Wir hören beide eine Stimme im Kopf, erklärte sie. Das ist kein gutes Zeichen.
Wir werden noch das Sprechen verlernen, sagte ich besorgt. Wie lange ist es her, dass jemand mit uns geredet hat?
Vor vier Tagen hast du dich bei Jeb dafür bedankt, dass er dir etwas zu essen gebracht hat, und er hat gesagt: »Gern geschehen.« Ich glaube zumindest, dass es vier Tage her ist. Auf jeden Fall ist es vier lange Schlafphasen her. Sie schien zu seufzen. Hör auf, an den Nägeln zu kauen - es hat Jahre gedauert, bis ich mir das endlich abgewöhnt hatte.