»Erinnerung. Ich habe versucht zu finden, was die Sucherin wollte.«
Obwohl kein Geräusch zu hören war, veränderte sich etwas. Die Atmosphäre, die sich durch meine Anschuldigung aufgeladen hatte, entspannte sich. Ich fragte mich, woher ich das wusste. Ich hatte das eigenartige Gefühl, als ob ich irgendwie mehr wahrnahm, als meine fünf Sinne mir übermittelten - es fühlte sich fast so an, als wäre dort noch ein Sinn, ganz am Rand, der nicht richtig genutzt wurde. Intuition? Das war fast das richtige Wort.
Als ob irgendein Wesen mehr als fünf Sinne benötigte.
Die Sucherin räusperte sich, aber es war der Heiler, der antwortete.
»Ah«, sagte er. »Machen Sie sich keine Gedanken wegen par- tieller Gedächtnis ... Schwierigkeiten. Das war, nun ja, nicht gerade zu erwarten, aber es ist auch kein Wunder, wenn man bedenkt ...«
»Ich verstehe nicht, was Sie meinen.«
»Dieser Wirt war Mitglied der menschlichen Widerstandsbewegung.« Die Stimme der Sucherin hatte jetzt einen aufgeregten Unterton. »Die Menschen, die vor der Implantation von uns wissen, sind schwieriger zu unterwerfen. Dieser hier widersetzt sich noch.«
Einen Augenblick lang herrschte Schweigen, während sie auf eine Antwort von mir warteten.
Widersetzte sich? Der Wirt blockierte den Zugang? Die Heftigkeit des Ärgers, der in mir aufwallte, überraschte mich von Neuem.
»Bin ich richtig verbunden?«, erkundigte ich mich mit gepresster Stimme.
»Ja«, sagte der Heiler. »Alle achthundertsiebenundzwanzig Verbindungspunkte sind fest in der optimalen Position verankert.«
Dieses Gehirn nutzte mehr meiner Verbindungsstränge als irgendein Wirt vorher und ließ nur hunderteinundachtzig Fortsätze frei. Vielleicht waren die zahlreichen Verknüpfungen der Grund für diese lebhaften Emotionen.
Ich beschloss, die Augen zu öffnen. Ich hatte das Bedürfnis, die Beteuerungen des Heilers zu überprüfen und sicherzustellen, dass der Rest von mir funktionierte.
Licht. Hell, schmerzhaft. Ich schloss die Augen wieder. Das letzte Licht, das ich gesehen hatte, war durch hundert Faden Ozean gefiltert gewesen. Aber diese Augen waren schon größerer Helligkeit ausgesetzt gewesen und kamen damit zurecht. Ich öffnete sie weniger weit und schirmte den Spalt mit meinen Wimpern ab.
»Soll ich das Licht runterdimmen?«
»Nein, Heiler. Meine Augen werden sich daran gewöhnen.« »Sehr gut«, sagte er und ich realisierte, dass sich sein Lob auf meinen selbstverständlichen Gebrauch des Pronomens meine bezog.
Beide warteten schweigend, während sich meine Augen langsam ganz öffneten.
Mein Gehirn erkannte die Umgebung als ein gewöhnliches Zimmer in einer Heileinrichtung. Ein Krankenhaus. Die Platten der Deckenverkleidung waren weiß mit dunkleren Sprenkeln. Die Lampen waren rechteckig und genauso groß wie die Platten, die sie in regelmäßigen Abständen ersetzten. Die Wände waren hellgrün - eine beruhigende Farbe, aber gleichzeitig auch die Farbe von Krankheit. Eine schlechte Wahl, meiner schnell gebildeten Meinung nach.
Die Personen, die mich ansahen, waren interessanter als das Zimmer. Das Wort Arzt erklang in meinem Gehirn, sobald mein Blick auf den Heiler fiel. Er trug weite, blaugrüne Kleidung, die seine Arme frei ließ. OP-Kleidung. Er hatte Haare im Gesicht - von einer seltsamen Farbe, die meine Erinnerung Rot nannte.
Rot! Seit drei Welten hatte ich weder diese Farbe noch eine ihrer Verwandten gesehen. Sogar dieses goldene Rotblond erfüllte mich mit Nostalgie.
Sein Gesicht sah für mich so aus wie das aller Menschen, aber das Wissen in meiner Erinnerung verwandte das Wort freundlich.
Ein ungeduldiges Schnaufen lenkte meine Aufmerksamkeit auf die Sucherin.
Sie war sehr klein. Wenn sie ruhig stehen geblieben wäre, hätte ich länger gebraucht, um sie dort neben dem Heiler zu bemerken. Sie zog nicht gerade die Blicke auf sich, ein dunkler Fleck im Raum. Sie war von Kopf bis Fuß in Schwarz gekleidet - sie trug einen klassischen Anzug mit einem seidenen Rollkragen-Shirt darunter. Ihr Haar war ebenfalls schwarz. Es war kinnlang und sie hatte es hinters Ohr gesteckt. Ihre Haut war dunkler als die des Heilers. Olivfarben.
Die Veränderungen in den Mienen der Menschen waren so gering, dass sie schwer zu deuten waren. Trotzdem konnte mein Gedächtnis den Ausdruck auf dem Gesicht dieser Frau benennen. Die schwarzen Brauen, die sich über den leicht hervortretenden Augen wölbten, boten einen vertrauten Anblick. Nicht direkt Ärger. Eher Härte. Verstimmung.
»Wie häufig kommt so was vor?«, fragte ich, wobei ich wieder den Heiler ansah.
»Nicht sehr oft«, räumte der Heiler ein. »Es stehen nur noch wenige ausgewachsene Wirtskörper zur Verfügung. Die unreifen Wirte sind komplett formbar. Aber Sie haben angegeben, dass Sie lieber als Erwachsene anfangen wollten ...«
»Ja.«
»Die meisten verlangen das Gegenteil. Die Lebensspanne dieser Menschen ist viel kürzer, als Sie es gewohnt sind.«
»Ich kenne die Fakten, Heiler. Hatten Sie mit dieser Art ... Widerstand schon zu tun?«
»Ich persönlich nur einmal.«
»Erzählen Sie mir von diesem Fall.« Ich machte eine Pause. »Bitte«, fügte ich hinzu, da ich das Gefühl hatte, dass meine Auf- forderung nicht sehr höflich geklungen hatte.
Der Heiler seufzte.
Die Sucherin begann mit den Fingern auf ihren Arm zu klopfen. Ein Zeichen von Ungeduld. Sie hatte keine Lust, auf das, was sie wissen wollte, zu warten.
»Es ist vier Jahre her«, begann der Heiler. »Die betreffende Seele hatte einen erwachsenen männlichen Wirt bestellt. Der erste, der zur Verfügung stand, war ein Mensch, der seit den Anfangsjahren einer Widerstandsgruppe angehört hatte. Er ... wusste, was nach seiner Ergreifung passieren würde.«
»Genau wie mein Wirt.«
»Äh, ja.« Der Heiler räusperte sich. »Es war erst das zweite Leben der Seele. Er kam aus der Blinden Welt.«
»Der Blinden Welt?«, fragte ich und legte nachdenklich den Kopf schief.
»Oh, Entschuldigung, Sie kennen unsere Spitznamen natürlich nicht. Aber dort waren Sie selbst auch, nicht wahr?« Er zog ein Gerät aus der Tasche, einen Computer, und sah schnell etwas nach. »Ja, Ihr fünfter Planet. Im einundachtzigsten Sektor.«
»Die Blinde Welt?«, fragte ich erneut, diesmal mit Missfallen in der Stimme.
»Nun ja, ich weiß, einige, die dort gelebt haben, nennen sie lieber die Singende Welt.«
Ich nickte langsam. Das gefiel mir viel besser.
»Und manche, die noch nie dort gewesen sind, nennen sie den Fledermausplaneten«, murmelte die Sucherin.
Ich sah sie an und merkte, wie sich meine Augen verengten, als mein Verstand das passende Bild des hässlichen Flattertiers hervorkramte, auf das sie anspielte.
»Ich nehme an, dass Sie zu denjenigen gehören, die noch nie dort gelebt haben, Sucherin«, sagte der Heiler leichthin. »Wir nannten diese Seele zunächst Racing Song - das war eine freie Übersetzung seines Namens in der ... Singenden Welt. Aber er beschloss bald, den Namen seines Wirts, Kevin, anzunehmen. Obwohl er aufgrund seiner Erfahrung für eine Berufung als Musical-Sänger vorgemerkt war, sagte er, er wolle lieber den früheren Beruf seines Wirts weiter ausüben, der was mit Mechanik zu tun hatte. All dies beunruhigte den ihm zugeteilten Helfer etwas, aber es bewegte sich noch im normalen Rahmen. Dann begann Kevin darüber zu klagen, dass er immer öfter für einige Zeit ohnmächtig wurde. Sie brachten ihn wieder zu mir und wir führten umfassende Untersuchungen durch, um sicherzustellen, dass das Gehirn des Wirts nicht irgendwo einen verborgenen Defekt hatte. Während der Untersuchungen stellten verschiedene Heiler beträchtliche Unterschiede in seinem Verhalten und Charakter fest. Als wir ihn dazu befragten, gab er an, sich an bestimmte Aussagen und Handlungen nicht erinnern zu können. Wir beobachteten ihn weiterhin zusammen mit seinem Helfer und entdeckten schließlich, dass der Wirt Kevins Körper gelegentlich unter seine Kontrolle brachte.«
»Unter seine Kontrolle brachte?« Ich riss die Augen auf. »Ohne dass die Seele es merkte? Der Wirt eroberte den Körper zurück?«