»Ich mache mich heute Nacht auf den Weg.« Die Worte kamen langsam heraus, resigniert, aber auch erleichtert. Seine Stimme veränderte sich leicht, war etwas weniger angespannt. Es war, als würde er sich wieder in den zurückverwandeln, der er gewesen war, bevor ich hier auftauchte. Eine Verantwortung wurde ihm von den Schultern genommen und durch eine andere, willkommenere ersetzt.
Er gab es auf, mich am Leben zu erhalten, und ließ der Natur - oder besser gesagt der Lynchjustiz - ihren Lauf. Wenn er zurückkehrte und ich tot war, würde er niemanden dafür verantwortlich machen. Er würde nicht trauern. All das konnte ich aus diesem einen Satz heraushören.
Ich kannte das dramatische Bild der Menschen für Kummer - ein »gebrochenes Herz«. Melanie konnte sich erinnern, davon selbst schon gesprochen zu haben. Ich hatte das immer für eine Übertreibung gehalten, ein gängiger Ausdruck für etwas, das eigentlich keinen körperlichen Aspekt hatte. Wie ein »grüner Daumen«. Daher war ich nicht auf den Schmerz in meiner Brust vorbereitet. Auf die Übelkeit ja, auf den Kloß in meinem Hals auch, und ja, auch auf die Tränen, die mir in den Augen brannten. Aber was war das für ein Reißen direkt unter meinen Rippen? Es ergab keinen Sinn.
Und es war nicht nur ein Reißen, sondern auch ein Zerren in verschiedene Richtungen. Denn Melanies Herz brach ebenfalls und das war ein anderer Schmerz, als wäre uns für unsere Doppelexistenz ein zweites Organ gewachsen. Ein doppeltes Herz für ein doppeltes Bewusstsein. Doppelt so starke Schmerzen.
Er verlässt uns, schluchzte sie. Wir werden ihn nie wiedersehen. Für sie war klar, dass wir sterben würden.
Ich hätte am liebsten mit ihr geweint, aber eine von uns musste Ruhe bewahren. Also biss ich mir auf die Hand, um ein Stöhnen zurückzuhalten.
»Das ist wahrscheinlich das Beste«, sagte Jeb. »Ich muss noch ein paar Dinge vorbereiten ...« Jared war in Gedanken bereits weit, weit weg aus diesem engen Gang.
»Ich übernehme hier. Gute Reise.« »Danke. Schätze, wir sehen uns, Jeb.« »Schätze auch.«
Jared gab Jeb das Gewehr zurück, stand auf und klopfte sich geistesabwesend den Staub von den Kleidern. Dann war er fort, eilte mit seinem vertrauten schnellen Schritt den Gang entlang und dachte an andere Dinge. Kein einziger Blick mehr in meine Richtung, kein einziger Gedanke mehr an mein Schicksal.
Ich lauschte dem leiser werdenden Geräusch seiner Schritte, bis sie verklungen waren. Dann, ohne mich um Jeb zu kümmern, legte ich mein Gesicht in die Hände und begann zu schluchzen.
Befreit
Jeb ließ mich ausheulen, ohne mich zu unterbrechen. Auch während des folgenden Geschniefes sagte er nichts. Erst nachdem ich eine gute halbe Stunde lang vollkommen still gewesen war, begann er zu sprechen.
»Bist du da drin noch wach?«
Ich antwortete nicht. Ich hatte mich zu sehr ans Schweigen gewöhnt.
»Willst du rauskommen und dich ein bisschen strecken?«, bot er an. »Mein Rücken tut ja schon weh, wenn ich nur an dieses blöde Loch denke.«
Merkwürdigerweise war ich nach dieser Woche unerträglicher Stille nicht in der Stimmung für Gesellschaft. Aber dieses Angebot konnte ich nicht ablehnen. Noch bevor ich überhaupt darüber nachdenken konnte, zogen mich meine Hände schon durch den Ausgang.
Jeb saß im Schneidersitz auf der Matte. Ich beobachtete ihn, während ich meine Arme und Beine ausschüttelte und die Schultern kreisen ließ, um zu sehen, wie er reagierte, aber er hatte die Augen wieder geschlossen. Genau wie bei Jamies Besuch neulich sah er aus, als würde er schlafen.
Wie lange war es her, seit ich Jamie gesehen hatte? Und wie ging es ihm jetzt? Mein sowieso schon wundes Herz machte einen schmerzhaften kleinen Satz.
»Besser?«, fragte Jeb und öffnete die Augen. Ich zuckte mit den Schultern.
»Das wird schon, hör mal.« Er grinste über beide Ohren. »Was ich da zu Jared gesagt habe ... na ja, ich habe nicht direkt gelogen, denn es ist alles wahr, wenn man es von einem bestimmten Blickwinkel aus betrachtet, aber von einem anderen Blickwinkel aus war es nicht so sehr die Wahrheit, sondern eher das, was er gerade brauchte.«
Ich starrte ihn bloß an; ich verstand kein Wort von dem, was er sagte.
»Wie auch immer. Jared muss mal etwas Abstand haben. Nicht von dir, Mädchen«, fügte er schnell hinzu, »aber von der ganzen Situation. Es wird ihm helfen, die Dinge mit anderen Augen zu sehen, wenn er eine Weile weg ist.«
Ich fragte mich, woher er so genau zu wissen schien, welche Wörter und Sätze mich treffen würden. Und selbst wenn, warum sollte es ihm etwas ausmachen, ob seine Worte mich verletzten, oder auch, ob mein Rücken schmerzte? Seine Freundlichkeit mir gegenüber war auf ihre ganz eigene Art angsteinflößend, weil sie mir unverständlich war. Jareds Verhalten ergab immerhin einen Sinn. Kyles und Ians Mordversuche, Docs fröhlicher Eifer, mir wehzutun - all das war ebenfalls logisch. Freundlichkeit nicht. Was wollte Jeb von mir?
»Mach nicht so ein finsteres Gesicht«, drängte er. »Sieh es doch mal positiv. Jared war verdammt stur, was dich angeht, und dass er jetzt zeitweise aus dem Weg ist, wird die Dinge hier sicher etwas angenehmer machen.« Ich runzelte die Stirn, während ich versuchte zu verstehen, was er meinte.
»Das hier zum Beispiel«, fuhr er fort, »nutzen wir normalerweise als Lagerraum. Wenn Jared und die Jungs zurückkommen, werden wir Platz brauchen, um das ganze Zeugs zu verstauen, das sie mitbringen. Also können wir genauso gut jetzt schon ein neues Plätzchen für dich suchen. Vielleicht eins, das ein bisschen größer ist? Und wo es ein Bett gibt?« Er lächelte wieder, als er mir den Köder vor die Nase hielt.
Ich wartete darauf, dass er ihn wieder wegzog, dass er mir sagte, er mache nur Spaß.
Stattdessen sahen mich seine Augen - die die Farbe von verwaschenen Jeans hatten - überaus sanft an. Etwas in ihrem Ausdruck schnürte mir erneut die Kehle zu.
»Du musst nicht zurück in das Loch da, Kleines. Das Schlimmste hast du überstanden.«
Ich stellte fest, dass ich seinen ernsthaften Gesichtsausdruck nicht länger anzweifeln konnte. Zum zweiten Mal innerhalb einer Stunde legte ich die Hände vors Gesicht und weinte.
Er stand auf und tätschelte unbeholfen meine Schulter. Er schien sich angesichts meiner Tränen unwohl zu fühlen. »Ist ja gut«, murmelte er.
Diesmal fing ich mich schneller wieder. Als ich mir die Feuchtigkeit aus den Augen wischte und ihn schief anlächelte, nickte er wohlwollend.
»Braves Mädchen«, sagte er und tätschelte mich wieder. »Wir müssen allerdings noch hierbleiben, bis wir sicher sind, dass Jared wirklich weg ist und uns nicht erwischen kann.« Er grinste verschwörerisch. »Und dann werden wir Spaß haben!«
Mir fiel ein, dass seine Vorstellung von Spaß normalerweise solche Dinge wie bewaffnete Auseinandersetzungen umfasste.
Er schmunzelte über meinen Gesichtsausdruck. »Keine Sorge. Komm, während wir warten, kannst du genauso gut Versuchen, dich ein bisschen auszuruhen. Ich wette, dass dir im Moment sogar diese dünne Matte verdammt bequem vorkommen wird.«
Ich sah von seinem Gesicht zu der Matte auf dem Boden und zurück.
»Na los«, sagte er. »Du siehst aus, als müsstest du dich mal richtig ausschlafen. Ich halte Wache.«
Gerührt und mit feuchten Augen legte ich mich auf die Matte und bettete meinen Kopf auf das Kissen. Es war himmlisch, obwohl die Matte wirklich dünn war. Ich dehnte mich mit ausgestreckten Zehen und Armen und hörte, wie meine Gelenke knackten. Dann kuschelte ich mich in die Matte. Es fühlte sich an, als umarmte sie mich und tilgte all die wunden Stellen. Ich seufzte.