»Ist es okay für dich, hier eine Weile ruhig sitzen zu bleiben?«, fragte mich Jeb.
Bei dem Gedanken, mich wieder verstecken zu können, nickte ich dankbar. Ich duckte mich durch die Öffnung und stand dann mitten im Raum, ohne zu wissen, was ich mit mir anfangen sollte.
Melanie fielen die Bücher ein, aber ich erinnerte sie an meinen Schwur, nichts anzufassen.
»Ich hab zu tun, Junge«, sagte Jeb zu Jamie. »Das Essen macht sich schließlich nicht von alleine. Kannst du hier Wache halten?«
»Klar«, sagte Jamie mit einem breiten Grinsen auf dem Gesicht. Ein tiefer Atemzug ließ seine schmächtige Brust anschwellen.
Ungläubig riss ich die Augen auf, als ich sah, wie Jeb das Gewehr in Jamies eifrige Hände legte.
»Bist du wahnsinnig?«, brüllte ich. Meine Stimme war so laut, dass ich sie zunächst gar nicht erkannte. Es kam mir so vor, als hätte ich mein Leben lang geflüstert.
Jeb und Jamie sahen mich schockiert an. Nur eine Sekunde später stand ich neben ihnen im Gang.
Beinahe hätte ich nach dem harten Metall des Laufs gegriffen - beinahe hätte ich es dem Jungen aus der Hand gerissen. Was mich davon abhielt, war nicht so sehr die Überzeugung, dass mich ein solcher Schritt sicher umgebracht hätte. Was mich davon abhielt, war vielmehr die Tatsache, dass ich, was Waffen anging, schwächer war als die Menschen; selbst um den Jungen zu retten, brachte ich es nicht über mich, das Gewehr zu berühren. Stattdessen wandte ich mich an Jeb.
»Was hast du dir dabei gedacht? Die Waffe einem Kind zu geben! Er könnte sich selbst töten!«
»Jamie hat schon genug durchgemacht, um als Mann zu gelten, denke ich. Er weiß, wie er mit einer Waffe umzugehen hat.«
Jamies Schultern strafften sich bei Jebs Lob und er presste das Gewehr fester an die Brust.
Angesichts von Jebs Dummheit schnappte ich nach Luft. »Und was, wenn sie mich holen kommen, während er hier ist? Hast du mal darüber nachgedacht, was dann passieren könnte Das hier ist ja kein Scherz! Sie werden ihm wehtun, um an mich heranzukommen!«
Jeb blieb gelassen, sein Gesicht ruhig. »Ich glaube nicht, dass es heute Ärger gibt. Darauf könnte ich wetten.«
»Ich nicht!«, schrie ich. Meine Stimme hallte von den Tunnelwänden wider - irgendjemand hörte mich sicher, aber das war mir egal. Es war besser, sie kamen, solange Jeb hier war. »Wenn du dir so sicher bist, dann lass mich allein hier zurück. Lass es drauf ankommen. Aber bring Jamie nicht in Gefahr!«
»Machst du dir Sorgen um den Jungen oder hast du einfach Angst, dass er das Gewehr auf dich richten könnte?«, fragte Jeb fast schon gleichgültig.
Ich blinzelte, aus dem Konzept gebracht. Dieser Gedanke wäre mir nicht im Traum gekommen. Ich starrte Jamie ausdruckslos an, sah seinen überraschten Blick und stellte fest, dass er von der Vorstellung ebenso schockiert war.
Es dauerte einen Moment, bis ich mich wieder gefangen hatte und weiterdiskutieren konnte. Als ich so weit war, hatte sich Jebs Gesichtsausdruck verändert. Er sah mich mit leicht gespitzten Lippen fest an - als wäre er gerade dabei, einem schwierigen Puzzle das letzte Teil hinzuzufügen.
»Gib Doc das Gewehr - oder Ian. Das ist mir egal«, sagte ich langsam und ruhig. »Aber lass den Jungen aus dem Spiel.«
Das Grinsen, das sich plötzlich über Jebs ganzes Gesicht zog, erinnerte mich eigenartigerweise an eine lauernde Katze.
»Das hier ist mein Haus, Mädchen, und ich mache, was ichwill. Wie immer.«
Jeb drehte sich um und schlenderte pfeifend durch den Gang davon. Mit offenem Mund starrte ich ihm nach. Als er verschwunden war, wandte ich mich zu Jamie um, der mich mürrisch ansah.
»Ich bin kein Kind mehr«, murmelte er mit tieferer Stimme als sonst und herausfordernd vorgestrecktem Kinn. »Und jetzt gehst du ... gehst du besser in dein Zimmer.«
Der Befehl klang nicht besonders streng, aber mir blieb nichts anderes übrig. Ich hatte diese Meinungsverschiedenheit haushoch verloren.
Ich setzte mich in die Höhlenöffnung, den Rücken auf der Seite an den Felsen gelehnt, auf der ich mich hinter dem halboffenen Paravent verstecken, aber Jamie immer noch sehen konnte. Mit den Armen umschlang ich meine Beine und begann das zu tun, was ich so lange tun würde, wie diese irrwitzige Situation andauerte. Ich machte mir Sorgen.
Außerdem sperrte ich Augen und Ohren auf, damit ich hörte, wenn sich jemand näherte, und vorbereitet war. Egal, was Jeb sagte, ich würde verhindern, dass irgendjemand Jamie in seiner Funktion als Wachposten herausforderte. Ich würde mich selbst ausliefern, bevor sie auch nur danach fragten.
Genau, stimmte Melanie kurz und bündig zu.
Jamie stand ein paar Minuten im Gang herum, das Gewehr fest in der Hand und unschlüssig, was genau seine Aufgabe beinhaltete. Anschließend begann er vor dem Paravent auf und ab zu gehen aber nach ein paar Schritten schien er sich dabei blöd vorzukommen. Dann setzte er sich neben dem offenen Paravent auf den Boden. Das Gewehr ruhte schließlich auf seinen untergeschlagenen Beinen und sein Kinn in den gewölbten Händen. Nach einer ganzen Weile seufzte er. Wache schieben war nicht so aufregend wie er erwartet hatte.
Mir wurde nicht langweilig dabei, ihn zu betrachten. Nachdem vielleicht ein oder zwei Stunden verstrichen waren, begann er mich wieder anzusehen, mir kurze Blicke zuzuwerfen.
Sein Mund öffnete sich mehrmals, um etwas zu sagen, aber was immer es war, er entschied sich dagegen. Ich legte das Kinn auf meine Knie und wartete, während er mit sich kämpfte. Schließlich wurde meine Geduld belohnt. »Der Planet, auf dem du warst, bevor du zu Melanie gekommen bist«, sagte er schließlich, »wie war es dort? So wie hier?«
Dieses Thema traf mich unvorbereitet.
»Nein«, sagte ich. Jetzt, wo nur Jamie hier war, konnte ich auch wieder in normaler Lautstärke sprechen, anstatt zu flüstern. »Nein, es war vollkommen anders.«
»Erzählst du mir, wie es dort aussah?«, fragte er und legte den Kopf schief, wie er es immer tat, wenn er sehr an einer von Melanies Gutenachtgeschichten interessiert war. Also erzählte ich es ihm.
Ich erzählte ihm alles über den wasserbedeckten Planeten des Sehtangs. Ich erzählte ihm von den zwei Sonnen, der elliptischen Planetenlaufbahn, dem trüben Wasser, der unbeweglichen Dauerhaftigkeit der Wurzeln, dem beeindruckenden Ausblick von tausend Augen, den endlosen Gesprächen einer Million lautloser Stimmen, die für alle zu hören waren. Er lauschte mit weit aufgerissenen Augen und einem faszinierten Lächeln.
»Ist das der einzige Ort außerhalb der Erde?«, fragte er, als ich schwieg und darüber nachdachte, ob ich noch etwas vergessen hatte. »Sind diese Wesen, der Sehtang« - er lachte über das Wortspiel -, »die einzigen anderen Außerirdischen?«
Ich lachte ebenfalls. »Wohl kaum. Genauso wenig wie ich die einzige Außerirdische in dieser Welt bin.« »Erzähl mir mehr davon.« Also erzählte ich ihm von den Fledermäusen in der Singenden Welt - wie es war, in musikalischer Blindheit zu leben, wie es war, zu fliegen. Ich erzählte ihm vom Nebelplaneten - wie es sich anfühlte, dickes weißes Fell und vier Herzen zu haben, um sich warm zu halten, und wie man den Klauenbestien aus dem Weg ging.
Ich fing an, ihm vom Blumenplaneten zu erzählen, von den Farben und dem Licht, aber er unterbrach mich mit einer weiteren Frage.
»Und was ist mit den kleinen grünen Männchen mit den dreieckigen Köpfen und den großen schwarzen Augen? Denen, die in Roswell abgestürzt sind und so. Wart ihr das?«
»Nein, das waren wir nicht.« »War das alles gar nicht echt?«
»Ich weiß es nicht - vielleicht, vielleicht auch nicht. Das Universum ist groß und es gibt eine Menge Wesen da draußen.«
»Wie seid ihr denn dann hergekommen - wenn ihr nicht die kleinen grünen Männchen wart, wer wart ihr dann? Ihr brauchtet schließlich Körper, um euch fortzubewegen, oder?«