Er grinste sein riesiges Grinsen von einem Ohr zum anderen und ich konnte nicht umhin zurückzulächeln, obwohl mein Lächeln eher traurig als vergnügt war. Er war eigentlich mein Feind. Er war wahrscheinlich verrückt. Und er war tatsächlich mein Freund. Nicht, dass er mich nicht umbringen würde, wenn die Umstände es erforderten, aber er würde es nicht gerne tun. Was konnte man bei den Menschen mehr von einem Freund verlangen?
Durchschaut
Jeb verschränkte die Hände hinter dem Kopf und sah nachdenklich zur dunklen Decke hinauf. Seine Plauderstimmung war ihm noch nicht vergangen.
»Ich habe mich oft gefragt, wie das ist - geschnappt zu werden, meine ich. Hab es oft miterlebt und war selbst ein paarmal kurz davor. Wie wäre das, habe ich mich gefragt. Würde es wehtun, wenn man mir etwas in den Kopf einsetzt? Ich habe schon dabei zugesehen, weißt du.«
Ich riss überrascht die Augen auf, aber er sah mich nicht an.
»Ihr scheint eine Art Narkose zu benutzen, aber das ist nur eine Vermutung. Es hat auf jeden Fall niemand wie am Spieß geschrien, von daher kann es nicht allzu qualvoll gewesen sein.«
Ich rümpfte die Nase. Quälerei. Nein, das war eine menschliche Spezialität.
»Die Geschichten, die du dem Jungen da erzählt hast, waren wirklich interessant.«
Ich erstarrte und er lachte leise. »Ja, ich habe zugehört. Euch belauscht, ich gebe es zu. Es tut mir nicht leid - das war großartig und mit mir würdest du nie so reden wie mit Jamie. Diese Fledermäuse und Pflanzen und Spinnen haben es mir echt angetan. Das bietet eine Menge Stoff zum Nachdenken. Hab immer gern so verrücktes Außerirdischen-Zeugs gelesen, Science-Fiction und so. Ich hab es regelrecht verschlungen. Und der Junge ist da wie ich - er hat alle meine Bücher zwei-, dreimal gelesen. Das muss toll für ihn sein, an neue Geschichten zu kommen. Für mich ist es das auf jeden Fall. Du bist eine gute Geschichtenerzählerin.«
Ich hielt meinen Blick weiterhin gesenkt, aber ich merkte, wie ich mich entspannte und meine Wachsamkeit ein wenig nachließ. Wie jeder in diesen emotional aufgeladenen Körpern war ich anfällig für Schmeichelei.
»Alle hier glauben, du hast uns aufgespürt, um uns den Suchern auszuliefern.«
Beim Klang dieses Wortes zuckte ich zusammen. Ich biss mir auf die Zunge und schmeckte Blut.
»Was für einen Grund könnte es sonst für dein Auftauchen hier geben?«, fuhr er fort, ohne meine Reaktion zu bemerken oder sie zu beachten »Aber sie haben sich da in eine fixe Idee verrannt, glaube ich. Ich bin der Einzige, der sich hier ein paar Fragen stellt... Ich meine, was ist denn das für ein Plan, einfach in die Wüste zu wandern, ohne wieder zurückkehren zu können?«
Er kicherte. »Wandern - ich nehme an, das ist deine Spezialität, was, Wanda?« Er lehnte sich zu mir herüber und stieß mich mit dem Ellbogen an. Ich warf einen flüchtigen Blick auf sein Gesicht und sah dann wieder auf den Fußboden, die Augen weit aufgerissen, unsicher, wo ich hingucken sollte. Er lachte wieder.
»Meiner Meinung nach war dieser Trip nur Zentimeter von einem erfolgreichen Selbstmordversuch entfernt. Ganz bestimmt nicht der Stil eines Suchers, wenn du weißt, was ich meine. Ich hab versucht, eine Erklärung dafür zu finden. Logisch an die Sache heranzugehen, okay? Wenn du also keine Unterstützung hattest, wofür ich keine Anzeichen gefunden habe, und du keine Möglichkeit hattest, zurückzukehren, dann musstest du es auf etwas anderes abgesehen haben. Du bist nicht besonders gesprächig gewesen, seit du hier bist, außer mit dem Jungen gerade eben, aber immer, wenn du etwas gesagt hast, habe ich genau zugehört. Mir scheint, der Grund, weshalb du da draußen beinahe draufgegangen bist war, dass du auf Teufel komm raus diesen Jungen und Jared finden wolltest.«
Ich schloss die Augen.
»Aber was für ein Interesse könntest du daran haben?«, fragte Jeb nachdenklich, ohne eine Antwort zu erwarten. »Ich sehe die Sache folgendermaßen: Entweder du bist eine wirklich gute Schauspielerin - eine Art Supersucherin, irgendeine neue Rasse, noch raffinierter als die übrigen - mit einem Plan, den ich mir einfach nicht vorstellen kann, oder du schauspielerst überhaupt nicht. Die erste Variante scheint mir eine ziemlich komplizierte Erklärung für dein Verhalten zu sein und ich glaube nicht daran. Wenn du allerdings nicht schauspielerst...«
Er schwieg einen Moment.
»Ich habe viel Zeit damit verbracht, deine Leute zu beobachten. Hab immer drauf gewartet, dass sie sich irgendwann verändern würden, weißt du - wenn sie sich nicht mehr wie wir zu verhalten brauchten, weil niemand mehr da war, für den sie sich verstellen mussten. Ich habe sie immer weiter und weiter beobachtet, aber sie haben sich einfach immer weiter wie Menschen verhalten. Sind bei den Familien ihrer Körper geblieben, haben bei schönem Wetter gepicknickt, Blumen gepflanzt, Bilder gemalt und all das. Ich habe mich gefragt, ob ihr alle irgendwie menschlich werdet. Ob wir letzten Endes nicht doch einen gewissen Einfluss auf euch ausüben.«
Er wartete, um mir die Möglichkeit zu geben, ihm zu antworten. Ich tat es nicht.
»Vor ein paar Jahren habe ich was gesehen, das sich mir eingeprägt hat. Einen alten Mann und eine alte Frau - beziehungsweise die Körper eines alten Mannes und einer alten Frau. Die so lange zusammen waren, dass die Eheringe an ihren Fingern regelrecht eingewachsen waren. Sie hielten Händchen und er küsste sie auf die Wange und sie wurde rot unter all ihren Falten. Da kam mir der Gedanke, dass ihr alle genau dieselben Gefühle habt wie wir, weil ihr in Wirklichkeit wir seid und nicht nur Hände in einer Handpuppe.«
»Ja«, flüsterte ich. »Wir haben genau dieselben Gefühle.
Menschliche Gefühle. Hoffnung und Schmerz und Liebe.«
»Wenn du also gar nicht schauspielerst ... dann könnte ich schwören, dass du die beiden liebst. Du, Wanda, nicht nur Mels Körper.«
Ich legte den Kopf auf meine Arme. Die Geste war gleichbedeutend mit einem Eingeständnis, aber das war mir egal. Ich konnte ihn einfach nicht mehr aufrecht halten.
»So viel zu dir. Aber ich denke natürlich auch über meine Nichte nach. Wie es für sie war, wie es für mich sein würde. Wenn sie jemanden in deinen Kopf einsetzen, ist man dann einfach ... weg? Ausgelöscht? Als wäre man tot? Oder ist es wie Schlafen? Ist man sich bewusst, dass jemand anders die Kontrolle übernommen hat? Ist sich derjenige deiner bewusst? Ist man da drinnen gefangen und schreit um Hilfe?«
Ich saß unbeweglich da und versuchte einen entspannten Gesichtsausdruck beizubehalten.
»Offensichtlich bleiben ja die Erinnerungen und Verhaltensweisen zurück. Aber das Bewusstsein ... Man sollte meinen, dass nicht alle Leute einfach kampflos aufgeben. Verdammt, ich weiß, dass ich versuchen würde zu bleiben - ich war nie einer, der ein Nein als Antwort akzeptiert hätte, das kann dir jeder bestätigen. Ich bin ein Kämpfertyp. Alle von uns, die noch übrig sind, sind Kämpfertypen. Und weißt du was: Ich hätte auch Mel so eingeschätzt.«
Er hielt den Blick immer noch zur Decke gerichtet, aber ich sah weiterhin zu Boden - starrte nach unten und studierte die Spuren im rötlich grauen Staub.
»Über all das habe ich echt viel nachgedacht.«
Ich konnte jetzt seinen Blick auf mir spüren, obwohl ich meinen Kopf gesenkt hielt. Ich rührte mich nicht, außer um langsam ein- und auszuatmen. Es kostete mich ziemlich viel Anstrengung, diesen langsamen Rhythmus unverändert
beizubehalten. Ich musste schlucken; ich hatte immer noch Blut im Mund.
Wie konnten wir jemals glauben, er wäre verrückt?, wunderte sich Mel. Er sieht alles. Er ist ein Genie.