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»Leider ja. Kevin war nicht stark genug, um seinen Wirt zu unterdrücken.«

Nicht stark genug.

Würden sie mich auch für schwach halten? War ich schwach, weil ich diesen Verstand nicht zwingen konnte, meine Fragen zu beantworten? Weil seine Gedanken in meinem Kopf gewesen waren, wo es nichts hätte geben sollen außer Stille? Ich hatte mich immer für stark gehalten. Der Gedanke an Schwäche ließ mich zusammensinken. Ließ mich Scham empfinden.

Der Heiler fuhr fort. »Dann passierten gewisse Dinge und es wurde beschlossen ...«

»Was für Dinge?«

Der Heiler sah zu Boden, ohne zu antworten.

»Was für Dinge?«, fragte ich noch einmal. »Ich denke, ich habe ein Recht darauf, es zu erfahren.«

Der Heiler seufzte. »Das stimmt. Kevin hat eine Heilerin ... angegriffen, als er nicht ... er selbst war.« Er schauderte. »Er schlug sie bewusstlos und entwendete ihr dann ein Skalpell. Wir fanden ihn ohnmächtig. Der Wirt hatte versucht, die Seele aus seinem Körper zu schneiden.«

Es dauerte einen Augenblick, bevor ich in der Lage war, etwas zu sagen. Und selbst dann war meine Stimme kaum ein Hauch. »Was ist aus ihnen geworden?«

»Glücklicherweise war der Wirt nicht in der Lage, lange genug bei Bewusstsein zu bleiben, um großen Schaden anzurichten. Kevin wurde verpflanzt, diesmal in einen unreifen Wirt. Der problematische Wirt war in schlechtem Zustand und es wurde beschlossen, dass es nicht viel Sinn hatte, ihn zu retten.

Kevin ist jetzt sieben Menschenjahre alt und vollkommen normal... wenn man von der Tatsache absieht, dass er den Namen Kevin beibehalten hat. Seine Betreuer achten sorgfältig darauf, dass er ausgiebig mit Musik beschallt wird, und das tut ihm gut...« Letzteres fügte er hinzu, als wäre es eine gute Nachricht - eine Nachricht, die den Rest irgendwie auslöschen konnte.

»Warum?« Ich räusperte mich, so dass meine Stimme etwas an Lautstärke gewann. »Warum sind diese Risiken nicht publik gemacht worden?«

»In allen Anwerbeinformationen wird sehr wohl deutlich darauf hingewiesen, dass es eine viel größere Herausforderung ist, sich einen der verbleibenden erwachsenen Wirte anzueignen als ein Kind«, warf die Sucherin ein. »Ein unreifer menschlicher Wirt wird dringend empfohlen.«

»Das Wort Herausforderung trifft Kevins Geschichte nicht ganz.«

»Sie haben es eben vorgezogen, die Empfehlung zu ignorieren.« In einer versöhnlichen Geste hob sie die Hände, als sich mein Körper verkrampfte und der steife Stoff auf dem schmalen Bett leise knisterte. »Nicht dass ich Ihnen das vorwerfe. Die Kindheit ist unglaublich langweilig. Und Sie sind sicherlich nicht die typische Durchschnittsseele. Ich habe vollstes Vertrauen, dass Sie in der Lage sein werden, mit dieser Sache fertigzuwerden. Dies ist nur ein Wirt unter vielen. Ich bin sicher, dass Sie bald Kontrolle und uneingeschränkten Zugang haben werden.«

Nachdem ich die Sucherin nun bereits eine Weile beobachtet hatte, war ich überrascht, dass sie die Geduld gehabt hatte, auch nur den kleinsten Aufschub hinzunehmen, und sei es auch nur meine persönliche Eingewöhnungszeit. Ich konnte ihre Enttäuschung darüber spüren, dass ich nicht mehr Informationen liefern konnte, und das verursachte in mir erneut das ungewohnte Gefühl von Wut.

»Sind Sie gar nicht auf die Idee gekommen, dass Sie sich auch selbst in diesen Körper implantieren lassen könnten, um die Ant- worten zu bekommen, die Sie suchen?«

Sie erstarrte. »Ich bin kein Springer.«

Meine Augenbrauen fuhren automatisch in die Höhe.

»Noch ein Spitzname«, erklärte der Heiler. »Für diejenigen, die keine komplette Lebensspanne in einem Wirt verbringen.«

Ich nickte. Auch in meinen anderen Welten hatten wir einen Begriff dafür gehabt. In keiner Welt war es gern gesehen. Also hörte ich auf, die Sucherin zu verspotten, und lieferte ihr, was ich konnte.

»Sie hieß Melanie Stryder. Sie ist in Albuquerque, New Mexico, geboren. Als sie von der Besetzung erfuhr, war sie in Los Angeles. Sie versteckte sich ein paar Jahre in der Wildnis, dann fand sie ... Hmmm. Tut mir leid, das versuche ich später noch mal. Der Körper hat zwanzig Jahre erlebt. Sie kam nach Chicago aus ...« Ich schüttelte den Kopf. »Es gab verschiedene Etappen, die sie nicht alle allein zurückgelegt hat. Der Wagen war gestohlen. Sie suchte nach einer Cousine namens Sharon, von der sie annahm, dass sie noch ein Mensch war. Bevor sie entdeckt wurde, hat sie niemanden gefunden oder kontaktiert. Aber ...« Ich bot meine ganze Kraft auf, kämpfte wieder gegen eine undurchdringliche Mauer. »Ich glaube ... Ich bin nicht sicher ... Ich glaube, sie hat eine Nachricht hinterlassen ... irgendwo.«

»Sie hat also damit gerechnet, dass jemand nach ihr suchen würde?«, fragte die Sucherin erfreut.

»Ja. Man wird sie ... vermissen. Wenn sie nicht zu einem Treffen erscheint mit ...« Ich biss die Zähne zusammen und kämpfte jetzt wirklich. Die Mauer war schwarz und ich konnte nicht erkennen, wie dick sie war. Ich schlug dagegen, Schweißperlen traten mir auf die Stirn. Die Sucherin und der Heiler gaben keinen Laut von sich, damit ich mich konzentrieren konnte.

Ich versuchte an etwas anderes zu denken - an die lauten, für mich ungewohnten Geräusche, die der Motor des Autos gemacht hatte, an den aufregenden Adrenalinstoß jedes Mal, wenn die Scheinwerfer eines anderen Fahrzeugs auf der Straße vorbeigesaust waren. Diese Bruchstücke hatte ich bereits aufgedeckt; an diesen Stellen hielt mich nichts zurück. Ich ließ mich von der Erinnerung weitertreiben, ließ sie die kalte Wanderung durch die Stadt im Schutz der nächtlichen Dunkelheit durchlaufen, ließ sie ihren Weg zu dem Gebäude finden, in dem sie mich aufgespürt hatten.

Nicht mich, sie. Mein Körper schauderte.

»Übertreiben Sie's nicht ...«, hob der Heiler an.

Die Sucherin brachte ihn mit einem »Psst« zum Schweigen.

Ich ließ meine Gedanken beim Entsetzen über die Entdeckung verweilen, beim unbändigen Hass auf die Sucher, der fast alles andere überlagerte. Der Hass war schlimm, er schmerzte. Ich konnte das Gefühl kaum ertragen. Aber ich ließ ihm seinen Lauf, in der Hoffnung, er würde sie ablenken, ihre Abwehr schwächen.

Ich sah genau hin, als sie versuchte, die Erinnerung vor mir zu verbergen, und dann merkte ich, dass es ihr nicht gelang. Eine Nachricht, mit einem zerbrochenen Bleistift auf einen Fetzen Papier gekritzelt. Hastig unter einer Tür durchgeschoben. Nicht irgendeine Tür.

»Der gesuchte Ort ist die fünfte Tür auf dem fünften Flur im fünften Stock. Dort befindet sich ihre Mitteilung.«

Die Sucherin hielt ein kleines Telefon in der Hand; sie murmelte eilig etwas hinein.

»Das Gebäude sollte eigentlich sicher sein«, fuhr ich fort. »Sie wussten, dass es baufällig war. Sie weiß nicht, wie es kam, dass sie entdeckt wurde. Haben sie Sharon gefunden?«

Es lief mir eiskalt den Rücken hinunter. Die Frage kam nicht von mir.

Es war nicht meine Frage, aber sie kam mir so natürlich über die Lippen, als wäre sie es. Die Sucherin bemerkte nichts Ungewöhnliches.

»Die Cousine? Nein, sie haben sonst keinen Menschen gefunden«, antwortete sie und mein Körper entspannte sich. »Der Wirt wurde beim Betreten des Gebäudes gesehen. Da allgemein bekannt war, dass das Gebäude baufällig ist, machte sich der Bür- ger, der ihn beobachtet hatte, Sorgen. Er hat uns angerufen und wir haben das Gebäude beschattet, um zu sehen, ob wir vielleicht mehr als einen zu fassen bekamen, und als das unwahrscheinlich erschien, sind wir reingegangen. Können Sie den Treffpunkt finden?«

Ich versuchte es.

So viele Erinnerungen, alle so farbenfroh und deutlich. Ich sah hundert Orte, an denen ich nie gewesen war, hörte ihre Namen zum ersten Mal. Ein Haus in Los Angeles, gesäumt von hohen, belaubten Bäumen. Eine Wiese in einem Wald mit einem Zelt und einem Lagerfeuer - außerhalb von Winslow, Arizona. Ein einsamer Steinstrand in Mexiko. Eine Höhle, deren Eingang von strömendem Regen abgeschirmt wurde, irgendwo in Oregon. Zelte, Hütten, primitive Verstecke. Je mehr Zeit verstrich, desto undeutlicher wurden die Ortsnamen. Sie wusste nicht, wo sie war, und es interessierte sie auch nicht.