Erst als wir fertig waren und uns auf dem Weg zur Küche befanden, stellte ich fest, dass der Gurt, der Jeb als Gewehrhalfter diente, leer war.
Ich schnappte hörbar nach Luft und meine Knie knickten ein wie die eines jungen Fohlens. Stolpernd kam ich zum Stehen.
»Was ist los, Wanda?«, fragte Jeb allzu unschuldig. Ich hätte ihm geantwortet, hätte nicht Ian direkt neben ihm gestanden und mein eigenartiges Verhalten fasziniert mit seinen lebhaften blauen Augen beobachtet.
Daher warf ich Jeb nur einen vielsagenden, teils ungläubigen, teils vorwurfsvollen Blick zu und ging dann langsam kopfschüttelnd neben ihm weiter. Jeb gluckste.
»Was ist denn los?«, flüsterte Ian ihm zu, als wäre ich taub. »Keine Ahnung«, sagte Jeb; er log, wie es nur ein Mensch konnte, glatt und unschuldig.
Er war ein guter Lügner und ich musste mich fragen, oh die Tatsache, dass er heute das Gewehr nicht dabeihatte, dass er um mich gestern allein gelassen hatte und dass er mich ständig zum Zusammensein mit den Menschen zwang, nur seine Art war, mich umzubringen, ohne selbst die Drecksarbeit machen zu müssen. Existierte unsere Freundschaft nur in meinem Kopf? War sie nur eine weitere Lüge?
Es war der vierte Tag, an dem ich in der Küche aß. Jeb, Ian und ich betraten den langgestreckten, warmen Raum - voll mit Menschen, die sich leise über die Ereignisse des Tages unterhielten - und nichts geschah. Nichts geschah.
Es herrschte keine plötzliche Stille. Niemand hielt inne, um mich mit Blicken zu durchbohren. Uns schien überhaupt niemand zu bemerken.
Jeb führte mich an einen freien Tresen und ging dann Brot für uns drei holen. Ian lehnte sich neben mich und wandte sich beiläufig an das Mädchen an seiner anderen Seite. Es war die junge Blonde - er nannte sie Paige.
»Wie läuft's denn so? Wie geht es dir, jetzt, wo Andy nicht da ist?«, fragte er sie.
»Im Prinzip gut, wenn ich mir nur nicht solche Sorgen machen würde«, sagte sie und biss sich auf die Lippe.
»Er kommt bald wieder zurück«, versicherte Ian ihr. »Jared bringt immer alle zurück nach Hause. Er hat wirklich ein Talent dafür. Seit er hier aufgetaucht ist, hatten wir keine Unfälle mehr, keine Probleme. Andy geht es bestimmt gut.«
Mein Interesse war geweckt, als er Jared erwähnte - Melanie, dieser Tage immer so schläfrig, war plötzlich hellwach -, aber Ian sagte nichts weiter. Er klopfte Paige nur auf die Schulter und drehte sich dann weg, um sein Essen von Jeb entgegenzunehmen.
Jeb saß neben mir und ließ seinen Blick mit einem überaus zufriedenen Gesichtsausdruck durch den Raum schweifen. Ich sah mich ebenfalls im Raum um und versuchte zu sehen, was er sah. So musste es hier normalerweise zugehen, wenn ich nicht da war. Allerdings schien meine Anwesenheit die anderen heute nicht zu stören. Sie mussten es leid sein, sich ihr Leben von mir einschränken zu lassen.
»Die Lage beruhigt sich langsam«, bemerkte Ian.
»War mir klar, dass das passieren würde«, erwiderte Jeb. »Wir sind doch alle vernünftige Leute hier.«
Ich runzelte die Stirn.
»Das stimmt, im Moment zumindest«, sagte Ian lachend. »Mein Bruder ist ja auch nicht hier.«
»Du sagst es«, stimmte Jeb zu.
Ich fand es interessant, dass sich Ian selbst zu den vernünftigen Leuten zählte. Hatte er bemerkt, dass Jeb unbewaffnet war? Ich brannte vor Neugier, aber ich konnte nicht riskieren, es anzusprechen.
Alle setzten ihre Mahlzeit fort. Die Neuigkeit, dass ich hier war, hatte offensichtlich ihren Reiz verloren. Der Gedanke erfüllte mich mit Hoffnung.
Als wir mit Essen fertig waren, befand Jeb, dass ich eine Ruhepause verdiente. Ganz der Gentleman, begleitete er mich den ganzen Weg bis zu meiner Tür.
»Wiedersehen, Wanda«, sagte er und berührte seinen imaginären Hut.
Ich holte tief Luft, um Mut zu fassen. »Jeb, warte ...« »Ja?«
»Jeb ...« Ich zögerte, weil ich versuchen wollte, es ihm auf höfliche Art zu sagen. »Ich ... Weißt du, vielleicht ist es dumm von mir, aber ich dachte, wir wären Freunde.«
Ich musterte ihn und forschte nach irgendeiner Veränderung in seinem Gesicht, die bedeuten konnte, dass er vorhatte, mich anzulügen. Er sah einfach nur freundlich aus, aber was wusste ich schon von den Feinheiten des Lügens?
»Natürlich sind wir das, Wanda.«
»Warum versuchst du dann, mich umzubringen?«
Seine buschigen Augenbrauen zogen sich überrascht zusammen. »Wie kommst du denn auf die Idee, Kleines?«
Ich zählte meine Beobachtungen auf. »Du hattest heute das Gewehr nicht dabei. Und gestern hast du mich allein gelassen.«
Jeb grinste. »Ich dachte, du magst das Gewehr nicht.« Ich wartete auf eine Antwort.
»Wanda, wenn ich dich umbringen wollte, hättest du den ersten Tag nicht überlebt.«
»Ich weiß«, murmelte ich und war plötzlich verlegen, ohne zu wissen, warum. »Deshalb ist ja auch alles so verwirrend.«
Jeb lachte fröhlich. »Nein, ich will dich nicht umbringen! Das ist genau der Punkt, Mädchen. Ich hab sie alle dazu gebracht, sich daran zu gewöhnen, dass du hier bist; dazu, die Situation zu akzeptieren, ohne es zu merken. Das ist, wie wenn man einen Frosch kocht.«
Ich runzelte die Stirn angesichts dieses seltsamen Vergleichs. Jeb erklärte: »Wenn du einen Frosch in einen Topf mit kochendem Wasser wirfst, hüpft er sofort wieder raus. Aber wenn du denselben Frosch in einen Topf mit lauwarmem Wasser setzt und es dann langsam erhitzt, merkt der Frosch nicht, was los ist, bevor es zu spät ist. Gekochter Frosch. Der Trick ist, sich in kleinen Schritten vorzuarbeiten.«
Ich dachte einen Augenblick lang darüber nach, erinnerte mich daran, wie mich die Menschen beim Mittagessen ignoriert hatten. Jeb hatte sie an mich gewöhnt. Es war verrückt, in meiner Situation Hoffnung zu schöpfen, aber dennoch wurde ich von ihr durchdrungen und sah die Welt plötzlich in fröhlicheren Farben.
»Jeb?«
»Hm?«
»Bin ich der Frosch oder das Wasser?«
Er lachte. »Das herauszufinden, überlasse ich dir.
Selbsterkenntnis ist gut für die Seele.« Als er sich zum Gehen wandte, lachte er erneut, diesmal noch lauter. »Das sollte keine Anspielung sein.«
»Warte -kann ich dich noch was fragen?«
»Klar. Ich würde sowieso sagen, jetzt bist du dran nach allem, was ich dich gefragt habe.«
»Warum bist du mein Freund, Jeb?«
Er kräuselte kurz die Lippen, während er über die Antwort nachdachte.
»Du weißt, dass ich ein neugieriger Mensch bin«, begann er und ich nickte. »Weißt du, ich habe euch Seelen oft beobachtet, aber nie mit einer gesprochen. Ich hatte einfach so viele Fragen ... Außerdem habe ich immer gedacht, dass man wahrscheinlich mit jedem auskommen kann, wenn man es wirklich will. Ich überprüfe meine Theorien gerne in der Praxis. Und bitte schön: Hier bist du, eins der nettesten Mädchen, die ich je getroffen habe. Es ist verdammt interessant, eine Seele zur Freundin zu haben, und ich bin wirklich stolz darauf, dass ich das hingekriegt habe.«
Er zwinkerte mir zu, machte eine Verbeugung und ging davon.
Nur weil ich Jebs Plan jetzt kannte, wurde es kein bisschen einfacher, als er ihn nach und nach immer weiterverfolgte.
Er trug das Gewehr jetzt gar nicht mehr bei sich. Ich wusste nicht, wo es war, aber ich war dankbar, dass es jetzt nachts nicht mehr neben Jamie lag. Es machte mich ein bisschen nervös, dass Jamie ungeschützt bei mir schlief, aber ich beschloss, dass er ohne das Gewehr eigentlich weniger in Gefahr schwebte. Niemand würde ihn verletzen wollen, wenn er keine Bedrohung darstellte. Außerdem hatten wir in letzter Zeit sowieso keine nächtlichen Besucher mehr gehabt.
Jeb begann mich auf kleine Botengänge zu schicken: aus der Küche noch ein Brötchen holen, weil er noch Hunger hatte. Einen Eimer Wasser holen, weil diese Ecke des Feldes noch trocken war. Jamie aus dem Unterricht holen, weil Jeb mit ihm sprechen musste. Hatte der Spinat bereits zu sprießen begonnen? Geh mal nachsehen. Kannte ich noch den Weg durch den südlichen Teil des Höhlensystems? Jeb hatte eine Nachricht für Doc.