Jedes Mal, wenn ich einen dieser einfachen Aufträge ausführen musste, war ich in Angstschweiß gebadet. Ich versuchte mich unsichtbar zu machen, wenn ich, so schnell ich konnte, ohne zu rennen, durch die großen Hallen und dunklen Gange lief. Ich hielt mich meistens dicht an der Wand und hatte den Blick gesenkt. Gelegentlich wurde meinetwegen ein Gespräch unterbrochen, so wie früher, aber in der Regel ignorierten mich alle. Das einzige Mal, dass ich konkrete Todesangst ausstand, war, als ich Sharons Unterricht unterbrach, um Jamie zu holen. Auf den Blick, den mir Sharon zuwarf, schien zwangsläufig ein Angriff folgen zu müssen. Aber sie ließ Jamie mit einem Nicken gehen, nachdem ich meine geflüsterte Anfrage hervorgepresst hatte, und als wir allein waren, hielt Jamie meine zitternde Hand und erklärte mir, dass Sharon jeden so ansah, der ihren Unterricht störte.
Am schlimmsten war es, als ich Doc aufsuchen sollte, denn Ian bestand darauf, mir den Weg zu zeigen. Ich schätze, ich hätte sein Angebot auch ablehnen können, aber Jeb hatte kein Problem damit und das bedeutete, dass Jeb Ian vertraute und nicht glaubte, er würde mich töten. Ich fühlte mich zwar alles andere als wohl dabei, diese Theorie einem Praxistest zu unterziehen, aber es schien so, als sei dieser Test unvermeidlich. Wenn Jeb sich irrte, was sein Vertrauen in Ian anging, würde Ian sowieso bald eine andere Gelegenheit finden. Also nahm ich die Feuerprobe auf mich und ging mit ihm durch den langen, schwarzen südlichen Tunnel.
Ich überlebte die erste Hälfte des Weges und Doc empfing seine Nachricht. Es schien ihn nicht zu überraschen, Ian neben mir hertrotten zu sehen. Vielleicht bildete ich es mir nur ein, aber ich hatte den Eindruck, als würden sie sich einen vielsagenden Blick zuwerfen. Fast erwartete ich, dass sie mich gleich auf eins von Docs Feldbetten schnallen würden. Diese Räume verursachten mir immer noch Übelkeit.
Aber Doc bedankte sich einfach bei mir und schickte mich anschließend wieder weg, als wäre er beschäftigt. Mir war nicht klar, was genau er machte - er hatte mehrere aufgeschlagene Bücher vor sich und unzählige Stapel Papier, auf dem nichts als Skizzen zu sehen waren.
Auf dem Rückweg war meine Neugier stärker als meine Angst. »Ian?«, fragte ich. Es fiel mir nicht ganz leicht, zum ersten Mal seinen Namen auszusprechen.
»Ja?« Er klang überrascht, dass ich ihn ansprach. »Warum hast du mich noch nicht umgebracht?« Er schnaubte. »Das nenne ich eine direkte Frage.«
»Du könntest es tun, weißt du. Jeb wäre im ersten Moment vielleicht wütend, aber ich glaube nicht, dass er dich erschießen würde.« Was sagte ich da? Es hörte sich ja so an, als wollte ich ihn dazu überreden. Ich biss mir auf die Zunge.
»Ich weiß«, sagte er lakonisch.
Einen Moment lang herrschte Schweigen, nur das Geräusch unserer Schritte hallte leise und gedämpft von den Tunnelwänden wider.
»Es kommt mir einfach nicht fair vor«, sagte Ian schließlich. »Ich habe viel darüber nachgedacht und festgestellt, dass es die Sache nicht besser machen würde, wenn ich dich umbrächte. Es wäre so, als würde man einen Zivilisten für die Kriegsverbrechen eines Generals hinrichten. Allerdings kaufe ich Jeb seine verrückten Theorien nicht ab - klar, es wäre nett, daran glauben zu können, aber nur, weil man gerne möchte, dass etwas wahr ist, heißt das noch nicht, dass das auch so ist. Aber egal, ob er Recht hat oder nicht, du stellst ganz offensichtlich keine Bedrohung für uns dar. Ich muss zugeben, dass du den Jungen wirklich zu mögen scheinst. Es ist seltsam, das zu beobachten. Wie auch immer, so lange du uns nicht in Gefahr bringst, käme es mir ... grausam vor, dich umzubringen. Und ein Außenseiter mehr oder weniger hier in der Höhle - was macht das schon für einen Unterschied?«
Ich dachte einen Moment lang über das Wort Außenseiter nach. Das war vielleicht die treffendste Beschreibung für mich, die ich mir vorstellen konnte. Wo hatte ich schon je wirklich dazugehört? Wie seltsam, dass sich unter all den Menschen ausgerechnet Ian als so überraschend freundlich entpuppte. Ich hätte nicht gedacht, dass Grausamkeit etwas Negatives für ihn war.
Er wartete schweigend ab, während ich über all das nachdachte.
»Wenn du mich nicht umbringen willst, warum hast du mich dann heute begleitet?«, fragte ich.
Er machte wieder eine Pause, bevor er antwortete.
»Ich bin mir nicht sicher, dass ...« Er zögerte. »Jeb glaubt, dass sich die Lage beruhigt hat, aber ich bin mir, was das angeht, nicht völlig sicher. Es gibt da immer noch ein paar Leute ... Wie auch immer, Doc und ich versuchen, sooft wir können, ein Auge auf dich zu haben. Vorsichtshalber. Dich in den südlichen Tunnel zu schicken, hieß meiner Meinung nach, das Schicksal sehr herauszufordern. Aber so ist Jeb - er fordert das Schicksal gern bis zum Letzten heraus.«
»Du ... du und Doc versucht mich zu beschützen?«
»Seltsame Welt, was?«
Es dauerte ein paar Sekunden, bevor ich antworten konnte. »Die seltsamste von allen«, pflichtete ich ihm schließlich bei.
Genötigt
Eine Woche verstrich oder auch zwei - hier, wo Zeit überhaupt keine Rolle spielte, schien es sinnlos, die Tage zu zählen - und meine Situation wurde immer seltsamer.
Ich arbeitete täglich mit den Menschen zusammen, aber nicht immer mit Jeb. An manchen Tagen kam Ian mit, an manchen Doc und manchmal bloß Jamie. Ich jätete das Feld, knetete Brotteig und schrubbte Tresen. Ich schleppte Wasser, kochte
Zwiebelsuppe, wusch Wäsche am hinteren Ende des schwarzen Beckens und verätzte mir die Hände beim Herstellen der hautreizenden Seife. Jeder leistete seinen Beitrag, und da ich hier eigentlich nichts zu suchen hatte, arbeitete ich doppelt so hart wie der Rest, ich wusste, dass ich mir hier keinen Platz verdienen konnte, aber ich versuchte den anderen durch meine Anwesenheit so wenig wie möglich zur Last zu fallen.
Ich erfuhr ein wenig über die Menschen um mich herum, hauptsächlich einfach dadurch, dass ich ihnen zuhörte.
Zumindest lernte ich ihre Namen. Die karamellhäutige Frau hieß Lily und war aus Philadelphia. Sie hatte Sinn für trockenen Humor und verstand sich mit allen gut, denn sie ließ sich nie aus der Ruhe bringen. Der junge Mann mit den schwarzen Stoppelhaaren, Wes, sah sie oft an, aber das schien sie nicht zu bemerken. Er war erst neunzehn und aus Eureka, Montana, geflohen. Die Mutter mit den müden Augen hieß Lucina und ihre beiden Jungen Isaiah und Freedom - Freedom war hier in den Höhlen von Doc auf die Welt geholt worden. Diese drei sah ich nicht oft; es schien, als hielte die Mutter ihre Kinder auf Distanz zu mir, so gut es in diesen beengten Räumlichkeiten ging. Der Mann mit dem schütteren Haar und den roten Wangen war Trudys Ehemann; er hieß Geoffrey. Sie waren häufig mit einem anderen Mann zusammen, Heath, der seit früher Kindheit der beste Freund Geoffreys war; die drei waren gemeinsam vor der Invasion geflohen. Der bleiche, weißhaarige Mann war Walter und er war krank, aber Doc wusste nicht, was ihm fehlte - es gab keine Möglichkeit, es herauszufinden, nicht ohne Laboruntersuchungen -, und selbst wenn Doc die Krankheit hätte diagnostizieren können, hatte er doch keine Medikamente, um sie zu behandeln. Als die Symptome fortschritten, begann Doc zu glauben, dass es sich um Krebs handelte. Es schmerzte mich, jemanden wirklich an etwas sterben zu sehen, das so leicht hätte geheilt werden können. Walter wurde schnell müde, aber er war immer fröhlich. Die weißblonde Frau - deren Augen dagegen sehr dunkel waren -, die den anderen an meinem ersten Tag auf dem Feld Wasser gebracht hatte, war Heidi. Travis, John, Stanley, Reid, Carol, Violetta, Ruth Ann ... Immerhin kannte ich alle Namen. Es gab fünfunddreißig Menschen in der Kolonie, von denen sechs auf Beutezug waren, Jared eingeschlossen. Zurzeit waren also neunundzwanzig Menschen in den Höhlen - und eine höchst unwillkommene Außerirdische.